Die Mumie
»Meine Hand sollte eigentlich auf deiner Schulter liegen. Ich werde mich bewegen, und du…
genau. Aber laß mich führen.«
Sie drehten sich immer schneller. Ramses ließ sich führen und sah nur ab und zu auf seine Füße hinab. Ein weiteres Paar kam auf die Tanzfläche und dann noch eins. Aber Julie sah sie nicht. Sie sah nur das verzückte Gesicht von Ramses und seinen Blick, der über die gewöhnlichen Schätze des Raums huschte. Plötzlich wurde alles zum Wirbel, die Kerzen, die vergoldeten Ventilatorblätter über ihnen, die üppigen Blumen auf den Tischen, das funkelnde Silber und die Musik, die sie einhüllte, die sie immer schneller davontrug.
Plötzlich lachte er laut. »Julie, wie Musik, die man aus einem Kelch gießt. Wie Musik, die zu Wein geworden ist.«
Sie drehte ihn rasch in engen Kreisen.
»Veränderungen!« rief er aus.
Sie warf den Kopf zurück und lachte.
Plötzlich war es vorbei. Die Musik hatte aufgehört. Doch sie wußte nur, daß es vorbei war, und daß er im Begriff war, sie zu küssen, und daß sie geküßt werden wollte. Aber er zögerte.
Er merkte, daß die anderen Paare die Tanzfläche verließen.
Er nahm ihre Hand.
»Ja, wir müssen gehen«, sagte sie.
Draußen war es kalt und neblig. Sie gab dem Türsteher ein paar Münzen. Sie verlangte nach einer Droschke.
Ramses ging auf und ab und betrachtete die Passanten, die aus Automobilen und Droschken ausstiegen. Ein Zeitungsjun-ge kam mit der neuesten Ausgabe auf sie zugerannt.
»Fluch der Mumie in Mayfair!« rief der Junge schrill. »Mumie ist von den Toten auferstanden!«
Bevor sie eingreifen konnte, hatte Ramses dem Jungen die Zeitung entrissen. Verlegen gab sie dem Knaben eine Münze.
Und da stand er wahrhaftig, der ganze alberne Skandal. Eine Tuscheskizze von Henry, wie er die Treppe ihres Hauses hin-unterrannte.
»Dein Cousin«, sagte Ramses düster. »›Fluch der Mumie schlägt wieder zu…‹« las er langsam.
»Das glaubt niemand! Es ist ein Witz!«
Er las weiter: »›Mitarbeitern des Britischen Museums zufolge ist die Ramses-Sammlung in Sicherheit und wird schon bald ins Museum überführt.‹« Er machte eine Pause. »Museum«, sagte er. »Erkläre mir das Wort Museum. Was ist ein Museum, ein Grab?«
Dem armen Mädchen ging es gar nicht gut, das konnte Samir sehen. Er mußte gehen. Aber er mußte auch Julie sprechen.
Und daher wartete er im Salon, wo er steif auf der Kante des Sofas saß und zum dritten Mal Ritas Angebot, ihm Kaffee, Tee oder Wein zu bringen, ablehnte.
Hin und wieder sah er auf und erblickte den glänzenden ägyptischen Sarg. Wenn nur Rita nicht da stehen würde, aber sie hatte eindeutig nicht die Absicht, ihn allein zu lassen.
Das Museum hatte schon seit Stunden geschlossen, aber sie wollte, daß er es sah. Sie ließ die Droschke weiterfahren und folgte ihm zum schmiedeeisernen Zaun. Er umklammerte die Stäbe, während er zur Tür und den hohen Fenstern hinauf sah. Die Straße war dunkel und verlassen. Ein leichter Niesel-regen hatte eingesetzt. »Da drinnen sind viele Mumien«, sagte sie. »Deine Mumie wäre schließlich auch dort gelandet. Vater hat für das Britische Museum gearbeitet, obwohl er kein Geld dafür bekommen hat.«
»Mumien von Königen und Königinnen aus Ägypten?«
»Die meisten sind in Ägypten. Eine Mumie von Ramses dem Zweiten steht hier seit Jahren in einem Schaukasten aus Glas.«
Er lachte kurz und verbittert, als er sie ansah. »Hast du sie gesehen?« Er sah wieder zum Museum. »Der arme Narr. Er hat nie erfahren, daß er im Grab des Ramses beigesetzt wurde.«
»Aber wer war er?« Ihr Herz schlug schneller. Zu viele Fragen lagen ihr auf der Zunge.
»Das habe ich nie erfahren«, sagte er leise, ließ den Blick dabei aber weiterhin über das ganze Gebäude schweifen, als wollte er es sich einprägen. »Ich habe meine Soldaten ausge-schickt, einen Sterbenden zu finden, einen Ungeliebten, um den sich niemand kümmern würde. Sie haben ihn nachts in den Palast gebracht. Und so habe ich… wie sagt man? Meinen eigenen Tod inszeniert. Und dann bekam Meneptah, mein Sohn, das, was er wollte, die Krone.« Er überlegte einen Augenblick. Dann sprach er mit tiefer Stimme weiter. »Und nun sagst du mir, dieser Leichnam sei zusammen mit anderen Kö-
nigen und Königinnen in einem Museum?«
»Im Museum von Kairo«, sagte sie leise. »Bei Saqqara und den Pyramiden. Dort gibt es eine große Stadt.«
Sie sah, wie sehr ihn diese Nachricht mitnahm. Sie sprach ganz leise
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