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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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haben, uns so gründlich enttäuscht.
    Aber für diesen Wanderer ist die konkrete Welt schon immer das wahre Objekt der Begierde gewesen. Müdigkeit und Resignation machen sich nur dann breit, wenn diese Welt wie ein Traum erscheint.«
    Er starrte in den Regen. Sie ließ seine Worte auf sich wirken und versuchte vergebens, ihre volle Bedeutung zu begreifen.
    In ihrem kurzen Leben hatte sie schon soviel Schmerz erfahren, daß sie das, was sie besaß, zu schätzen wußte. Nach dem Tod ihrer Mutter hatte sie sich noch enger an ihren Vater geklammert. Sie hatte versucht, Alex Savarell zu lieben, weil er es so wollte. Ihrem Vater war es einerlei gewesen. Aber in Wahrheit liebte sie wie ihr Vater Ideen und Objekte. Meinte er das? Sie war nicht sicher.
    »Möchtest du nicht nach Ägypten, möchtest du die alte Welt nicht mit eigenen Augen sehen?« fragte sie.
    »Ich bin hin und her gerissen«, flüsterte er.
    Ein Windstoß fegte über den verlassenen Gehweg, trockene Blätter wurden an dem schmiedeeisernen Zaun entlang ge-weht. Von einer elektrischen Leitung über ihnen ertönte ein leises Surren. Ramses drehte sich um und betrachtete sie.
    »Echter als ein Traum«, flüsterte er und sah wieder ins gelbe Licht der Lampe. »Ich will diese Zeit, liebster Darling«, sagte er. »Vergibst du mir, wenn ich dich so nenne? Mein liebster Darling? Wie du deinen Freund Alex genannt hast.«
    »Du darfst mich so nennen«, sagte sie. Denn ich liebe dich mehr, als ich ihn je geliebt habe!
    Er schenkte ihr sein gütiges, großherziges Lächeln. Er kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu und riß sie unvermittelt von den Füßen.
    »Leichte kleine Königin«, sagte er.
    »Laß mich runter, großer König«, flüsterte sie.
    »Warum sollte ich?«
    »Weil ich es dir befehle.«
    Er gehorchte. Er setzte sie behutsam ab und verbeugte sich tief vor ihr.
    »Und wohin gehen wir nun, meine Königin? In den Palast von Stratford in der Region Mayfair im Lande London, England, dereinst als Britannien bekannt?«
    »Ja, genau das machen wir, weil ich hundemüde bin.«
    »Ja, und ich muß in der Bibliothek deines Vaters studieren, wenn du gestattest. Ich muß die Bücher lesen, um alles, was du mir gezeigt hast, wie du selbst sagst, ›zu ordnen‹.«

    Kein Laut war im Haus zu hören. Wohin war das Mädchen gegangen? Der Kaffee, den Samir schlußendlich doch getrunken hatte, war inzwischen kalt geworden. Er konnte dieses wäßrige Gebräu nicht mehr trinken. Er hatte es von Anfang an nicht gewollt.
    Er hatte den Sarg der Mumie über eine Stunde lang ange-starrt, so kam es ihm jedenfalls vor, denn die Uhr in der Diele hatte zweimal geläutet. Ab und zu hatten Scheinwerfer durch die Spitzenvorhänge geschienen, waren durchs Zimmer ge-huscht und hatten das goldene Antlitz der Mumie einen un-heimlichen Augenblick lang mit Leben erfüllt.
    Plötzlich stand er auf. Er konnte die Bodendielen unter dem Teppich quietschen hören. Er ging langsam auf den Sarg zu.
    Heb den Deckel hoch. Dann wirst du es wissen. Heb ihn hoch.
    Angenommen, er war leer, was dann?
    Er streckte den Arm nach dem vergoldeten Holz aus. Seine Hand verweilte zitternd.
    »Das würde ich nicht tun, Sir!«
    Aha, das Mädchen. Das Mädchen in der Diele, mit ineinander verschlungenen Händen, das Mädchen mit der großen Angst.
    Aber wovor hatte sie Angst?
    »Miss Julie wäre sehr böse.«
    Ihm fiel darauf nichts ein. Er nickte verlegen und ging zum Sofa zurück.
    »Vielleicht sollten Sie morgen wiederkommen«, sagte sie.
    »Nein. Ich muß sie heute abend noch sprechen.«
    »Aber Sir, es ist schon so spät.«
    Das Klappern von Hufen draußen, das leise Quietschen der Droschkenreifen. Er hörte ein leises Lachen und wußte sofort, daß es Julie war.
    Rita eilte zur Tür und schob den Riegel zurück. Staunend ruhte sein Blick auf dem Paar, das jetzt das Zimmer betrat; die strahlende Julie, in deren Haar funkelnde Regentropfen hingen, und ein Mann, ein großer, stattlicher Mann mit dunkel-braunem Haar und leuchtend blauen Augen. Julie sprach mit ihm, nannte seinen Namen. Der Name sagte ihm gar nichts.
    Samir konnte den Blick nicht von diesem Mann nehmen. Die Haut war blaß und makellos. Und die Züge ebenmäßig geformt. Aber die Ausstrahlung des Mannes war das Überwältigende. Der Mann besaß eine Aura der Stärke, die fast beängstigend war.
    »Ich wollte nur… nur nach Ihnen sehen«, sagte er zu Julie, ohne sie dabei anzusehen. »Mich vergewissern, daß es Ihnen gut geht. Ich mache mir Sorgen um

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