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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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weiter, wußte aber nicht zu sagen, ob er sie hörte:
    »Vor langer Zeit wurde das Tal der Könige geplündert. Grabräuber sind fast in jede Gruft eingebrochen. Der Leichnam von Ramses dem Großen wurde mit Dutzenden anderen in einem Massengrab gefunden, das die Priester ausgehoben hatten.«
    Er drehte sich um und sah sie nachdenklich an. Selbst jetzt wirkte sein Gesicht offen, seine Augen suchend.
    »Sag mir eines, Julie. Königin Kleopatra die Sechste, die zur Zeit des Julius Cäsar regiert hat. Liegt ihr Leichnam auch im Museum von Kairo? Oder hier?« Er drehte sich wieder zu dem dunklen Gebäude um. Die subtilen Veränderungen, die dunkle Farbe seines Gesichts entgingen ihr nicht.
    »Nein, Ramses. Niemand weiß, was aus den sterblichen Überresten von Kleopatra geworden ist.«
    »Aber ihr kennt diese Königin, deren Marmorbüste sich in meinem Grab befand.«
    »Ja, Ramses, jedes Schulkind kennt den Namen Kleopatra.
    Alle Welt kennt ihn. Aber ihr Grab wurde vor langer Zeit zerstört.«
    »Ich verstehe mehr, als ich sagen kann, Julie. Fahr fort.«
    »Niemand weiß, wo sich ihr Grab befand. Niemand weiß, was aus ihrem Leichnam geworden ist. Die Zeit der Mumien war vorbei.«
    »Nein!« flüsterte er. »Sie wurde auf alte ägyptische Weise begraben, zwar ohne den Zauber und das Einbalsamieren, aber sie wurde in Leinen gewickelt, wie es sich ziemte, und zu ihrem Grab am Meer gebracht.«
    Er verstummte. Er legte die Hände an die Schläfen. Und dann preßte er den Kopf gegen den Eisenzaun. Es regnete jetzt stärker. Plötzlich war ihr kalt.
    »Aber dieses Mausoleum«, sagte er, während er sich langsam wieder sammelte. Er verschränkte die Arme. »Es war ein prunkvolles Bauwerk. Es war groß und wunderschön und mit Marmor verkleidet.«
    »Das wissen wir von den alten Geschichtsschreibern. Aber es ist verschwunden. In Alexandria finden sich keine Spuren mehr. Niemand weiß, wo es gestanden hat.«
    Er sah sie nachdenklich an. »Aber ich weiß es«, sagte er; Er ging ein Stück zur Seite. Unter einer Straßenlaterne blieb er stehen und sah in das trübe gelbe Licht. Sie folgte ihm zö-
    gernd. Schließlich drehte er sich zu ihr um, streckte die Hand nach ihr aus und zog sie zu sich heran.
    »Du fühlst meinen Schmerz«, sagte er ruhig. »Und doch weißt du so wenig von mir. Was bin ich für dich?«
    Sie überlegte. »Ein Mann«, sagte sie. »Ein wunderschöner starker Mann. Ein Mann, der leidet, wie wir alle leiden. Und ich weiß manches… weil du es selbst aufgeschrieben und die Schriftrollen hinterlassen hast.«

    Unmöglich zu sagen, ob ihm das gefiel.
    »Und dein Vater hat es auch gelesen«, sagte er.
    »Ja. Er hat einige Übersetzungen angefertigt.«
    »Ich habe ihn dabei beobachtet«, flüsterte er.
    »Ist es wahr, was du geschrieben hast?«
    »Warum sollte ich lügen?«
    Plötzlich wollte er sie küssen, aber sie wich wieder zurück.
    »Du suchst dir die seltsamsten Augenblicke für deine Avancen aus«, sagte sie atemlos. »Wir haben von… von Tragödien gesprochen, stimmt’s?«
    »Von Einsamkeit vielleicht, und Narretei. Und den Taten, zu denen uns der Kummer verleitet.«
    Sein Ausdruck wurde sanfter. Sein Lächeln hatte wieder etwas Verspieltes an sich.
    »Deine Tempel sind in Ägypten«, sagte sie. »Sie stehen noch.
    Das Ramsesseum in Luxor. Abu Simbel. Das sind jedoch nicht die Namen, die zu deiner Zeit benutzt wurden. Die riesigen Statuen! Statuen, die die ganze Welt gesehen hat. Englische Dichter haben darübergeschrieben. Große Feldherrn haben sie besucht. Ich habe sie berührt. Ich stand in den uralten Hallen.«
    Er lächelte immer noch. »Und nun gehe ich mit dir durch diese modernen Straßen.«
    »Und es macht dir Freude.«
    »Ja, das ist wahr. Meine Tempel waren schon alt, bevor ich die Augen zugemacht habe. Aber das Mausoleum von Kleopatra wurde gerade erst gebaut.« Er verstummte und ließ ihre Hand los. »Verstehst du, mir kommt es vor, als wäre es gestern gewesen. Und dennoch ist es wie ein Traum und unendlich fern. Irgendwie habe ich im Schlaf das Dahingehen der Jahrhunderte gespürt. Meine Seele ist gewachsen, während ich schlief.«
    Sie dachte an die Worte in der Übersetzung ihres Vaters.
    »Was hast du geträumt, Ramses?«
    »Nichts, meine Teuerste, das sich mit den Wundern dieses Jahrhunderts messen könnte!« Er hielt inne. »Wenn wir müde sind, sprechen wir sehnsüchtig von Träumen, als würden sie unsere wahren Begierden verkörpern – was wir haben könnten, wenn das, was wir

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