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Die Mumie

Die Mumie

Titel: Die Mumie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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hier sollte man auf die Gefühle von Miss Stratford Rücksicht nehmen.«
    »Vielleicht sollten Sie sie besuchen!« sagte Hancock und sah Samir böse an. »Sie waren ein Freund ihres Vaters.«
    »Gerne, Sir«, antwortete Samir mit leiser Stimme. »Das werde ich mit Vergnügen tun.«

    Früher Abend: Hotel Victoria. Ramses speiste seit vier Uhr, als die Sonne noch schräg durch das Bleiglas auf die weißgedeckten Tische gefallen war. Jetzt war es dunkel. Überall brannten Kerzen. Die Ventilatoren an der Decke drehten sich ganz langsam und bewegten kaum die Wedel der eleganten, dunkelgrünen Palmen in ihren Messingtöpfen.
    Livrierte Kellner brachten kommentarlos einen Teller nach dem anderen und zogen lediglich die Brauen hoch, wenn sie eine neue Flasche italienischen Rotwein aufmachten.
    Julie war schon vor Stunden mit ihrer kargen Mahlzeit fertig gewesen. Sie unterhielten sich angeregt, und das Englische kam Ramses immer leichter über die Zunge.
    Sie hatte Ramses beigebracht, wie man das schwere Tafelsilber benützte, aber er machte keinen Gebrauch davon. Zu seiner Zeit hätte sich nur ein Barbar Essen in den Mund geschaufelt.
    Eigentlich, so hatte er nach kurzem Nachdenken bemerkt, hatte sich überhaupt niemand Essen in den Mund geschaufelt.
    Irgendwann wollte Julie ihm erklären, warum Menschen Besteck benutzten. Im Moment mußte sie zugeben, daß er sehr, sehr… anspruchsvoll war. Elegant, kultiviert und geschickt darin, Brot und Fleisch zu zerkleinern und auf der Zunge zu plazieren, ohne daß die Finger die Lippen berührten.

    Sie steckte mitten in ihrer Erklärung über die industrielle Revolution. »Die ersten Maschinen waren einfach – zum Weben und zum Pflügen der Felder. Aber die Idee von der Maschine hat die Phantasie beflügelt.«
    »Ja.«
    »Wenn man eine Maschine baut, die das eine macht, dann kann man auch eine Maschine bauen, um etwas anderes…«
    »Ich habe verstanden.«
    »Und dann kamen die Dampfmaschine, das Automobil, das Telefon, das Flugzeug.«
    »Ja, fliegen würde ich gern.«
    »Das wirst du auch. Aber begreifst du die Idee, die Veränderung des Denkens?«
    »Gewiß. Ich stamme nicht aus der neunzehnten Dynastie Ägyptens, ich stamme aus den Anfangstagen des römischen Imperiums. Mein Verstand ist, wie sagt man, flexibel und an-passungsfähig. In mir findet ununterbrochen eine, wie sagt man, Veränderung statt.«
    Irgend etwas erschreckte ihn. Sie wußte zuerst nicht, was es war. Das Orchester hatte angefangen, sehr leise zu spielen, so daß sie es über das Murmeln der Unterhaltung hinweg kaum hören konnte. Er stand auf und ließ die Serviette fallen.
    Er deutete zur anderen Seite des überfüllten Raums.
    Die leisen Klänge des Walzers »Die lustige Witwe« tönten deutlich über das Murmeln der Unterhaltungen. Julie drehte sich um und sah das kleine Streichorchester, das auf der anderen Seite der polierten Tanzfläche Platz genommen hatte.
    Ramses stand auf und ging darauf zu.
    »Ramses, warte«, sagte Julie. Aber er hörte sie nicht. Sie eilte ihm nach. Bestimmt starrte inzwischen jeder den großen Mann an, der über die Tanzfläche ging und vor den Musikern stehenblieb, als wäre er der Dirigent persönlich.
    Finster starrte er auf die Violinen und das Cello. Erst als er die große goldene Harfe sah, lächelte er wieder, und zwar so eindeutig hinreißend, daß die Violinistin zurücklächelte und sogar der alte, grauhaarige Cellist gerührt schien.
    Sie mußten ihn für einen Taubstummen gehalten haben, als er hinaufging und die Finger auf das Cello legte, die er jedoch angesichts der starken Vibrationen schnell wieder wegzog, doch nur, um es erneut zu berühren.
    »Oooh, Julie«, flüsterte er laut.
    Alle sahen ihn an. Selbst die Kellner schienen verwirrt. Aber niemand wagte es, dem stattlichen Mann in Lawrences be-stem Anzug mit der Seidenschärpe entgegenzutreten, nicht einmal dann, als er am ganzen Körper zitterte und die Hände an die Schläfen preßte.
    Sie zupfte an ihm. Er rührte sich nicht. »Julie, welche Klänge!«
    flüsterte er.
    »Dann tanz mit mir, Ramses«, sagte sie.
    Niemand tanzte, aber spielte das eine Rolle? Da war die Tanzfläche, und ihr war nach Tanzen zumute. Mehr als alles auf der Welt war ihr nach Tanzen zumute.
    Er sah sie baff erstaunt an. Er ließ zu, daß sie ihn umdrehte und seine Hand ergriff, während sie ihm gleichzeitig einen Arm um die Taille legte.
    »So führt der Mann die Frau«, sagte sie. Im Walzerschritt zog sie ihn behutsam mit sich.

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