Die Mumie
genug, daß er den Schleier vollkommen weggezogen hatte? Mußte er auch noch unwiderstehlich sein?
Hatte sie sich so unsterblich verlieben müssen?
Elliott hielt sich im dunklen Schatten der holzgetäfelten Bar auf und sah ihnen beim Tanzen zu. Sie tanzten ihren dritten Walzer, und Julie lachte, als Ramsey sie übermütig herum-schwenkte und die anderen aus ihrem Weg trieb.
Niemand schien sich daran zu stören. Liebende haben überall Narrenfreiheit.
Elliott trank seinen Whiskey leer, stand auf und ging.
Als er Henrys Tür erreichte, klopfte er einmal und trat ein.
Henry saß zusammengekauert auf einem kleinen Sofa. Er hatte einen dünnen grünen Morgenmantel um sich geschlungen, seine Beine darunter waren nackt und haarig, die Füße bloß. Er schien zu zittern, als wäre ihm schrecklich kalt.
Elliott war plötzlich selbst erstaunt über die Wut, die aus ihm herausbrach. Seine Stimme klang heiser und unvertraut.
»Was hat unser ägyptischer König gesehen?« herrschte er Henry an. »Was ist in der Gruft geschehen, bevor Lawrence gestorben ist?«
»Ich habe versucht, das zu bekommen, was du wolltest!« flü-
sterte Henry. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Er hatte einen großen Bluterguß am Hals. »Ich wollte… ihn dazu bringen, Julie gut zuzureden, Alex zu heiraten.«
»Lüg mich nicht an!« sagte Elliott. Er umklammerte mit der linken Hand den silbernen Gehstock und war bereit, ihn wie eine Keule zu heben.
»Ich weiß nicht, was passiert ist«, winselte Henry. »Oder was ich gesehen habe! Es lag eingewickelt in diesem verdammten Mumiensarg. Verdammt, was hätte ich sehen können! Onkel Lawrence hat mit mir gestritten. Er war außer sich. Die Hitze…
ich weiß nicht, was passiert ist. Plötzlich lag er auf dem Boden.«
Er sackte nach vorne, stützte die Ellbogen auf die Knie und den Kopf in die Hände. »Ich wollte ihm nicht weh tun«, schluchzte er. »O Gott, ich wollte ihm nicht weh tun! Ich habe nur getan, was ich tun mußte.« Er neigte den Kopf und vergrub die Finger in seinem dunklen Haar.
Elliott sah auf ihn hinab. Wäre dies sein Sohn, hätte das Leben keinen Sinn gehabt. Und wenn diese erbärmliche Kreatur log… Aber das wußte er nicht. Er konnte es einfach nicht sagen.
»Na gut«, sagte er. »Hast du mir alles gesagt?«
»Ja!« sagte Henry. »Herrgott, ich muß runter von diesem Schiff! Ich muß fort von ihm!«
»Aber weshalb verachtet er dich so? Warum hat er versucht, dich zu töten, und warum demütigt er dich ständig?«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Nur Henrys verzweifeltes Schluchzen war zu hören. Dann hob er wieder das hagere weiße Gesicht. Die dunklen Augen blickten stechend.
»Ich habe gesehen, wie es zum Leben erwacht ist«, sagte Henry. »Ich bin der einzige außer Julie, der wirklich weiß, was es ist. Du weißt es, aber ich habe es gesehen. Es will mich umbringen!« Er verstummte, als befürchtete er, die Beherrschung zu verlieren. Seine Augen flackerten, als er den Teppich betrachtete. »Ich will dir noch was sagen«, sagte er, während er wieder auf das Sofa zurücksank. »Es verfügt über unnatürliche Kräfte, dieses Ding. Es könnte einen Menschen mit bloßen Händen töten. Ich habe keine Ahnung, warum es mich nicht beim ersten Versuch getötet hat. Aber es könnte ihm gelingen, falls es noch einen Versuch unternimmt.«
Der Earl antwortete nicht.
Er drehte sich um und verließ die Kabine. Er ging an Deck.
Der Himmel über dem Meer war schwarz, die Sterne wie immer in wolkenloser Nacht über dem Meer gestochen klar.
Er lehnte lange Zeit über der Reling, dann zog er eine Zigarre heraus und zündete sie an. Er versuchte, in Ruhe zu überdenken.
Samir Ibrahaim wußte, daß dieses Ding ein Unsterblicher war.
Er reiste mit ihm. Julie wußte es. Julie war überwältigt. Und weil er selbst so besessen von dem Geheimnis war, hatte er Ramsey nun zu erkennen gegeben, daß er es auch wußte.
Ramsey empfand eindeutig Zuneigung für Samir Ibrahaim. Er empfand auch etwas für Julie Stratford, aber was es war, konnte er nicht sagen. Aber was empfand Ramsey für ihn?
Vielleicht würde er sich irgendwann gegen ihn wenden wie gegen Henry, den »einzigen Zeugen«.
Aber irgendwie ergab das alles keinen Sinn. Und wenn, machte es Elliott keine Angst. Es faszinierte ihn nur. Und die ganze Sache mit Henry verwirrte ihn und stieß ihn ab. Henry war ein überzeugender Lügner. Aber Henry sagte nicht die ganze Wahrheit.
Er wußte, daß er nichts anderes tun
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