Die Mumie
Schnelligkeit, mit der er las und etwas aufnahm, grenzte an ein Wunder.
Am sechsten Tag der Reise beschaffte sich Ramsey eine Schreibmaschine. Er lieh sie sich mit Erlaubnis des Kapitäns aus dem Schiffsbüro aus. Von Stund an hielt er all das fest, was er tun wollte. Manchmal gelang es Elliott, einen Blick auf die Liste zu werfen, wenn er Ramsey in seiner Kabine besuchte. Darauf stand dann: »Das Prado in Madrid besuchen.
Schnellstmöglich mit einem Flugzeug fliegen.«
Elliott wurde schließlich eines klar. Der Mann schlief nie. Er brauchte keinen Schlaf. Wenn er nicht im Kino oder der Bibliothek war oder in seiner Kabine tippte, dann war er im Naviga-tions- oder Funkraum bei der Mannschaft. Sie waren noch keine zwei Tage an Bord gewesen, da hatte Ramsey schon jedes Mannschaftsmitglied mit Namen angeredet. Seine Fä-
higkeit, die Menschen zu manipulieren, durfte nicht unterschätzt werden.
An einem besonders trüben Morgen betrat Elliott den Ballsaal.
Er sah eine Handvoll Musiker, die für Ramsey spielten, der ganz allein tanzte, und zwar einen seltsam langsamen und primitiven Tanz, wie ihn griechische Männer in ihren Tavernen am Meer tanzten. Die Gestalt des einsamen tanzenden Mannes, der das weiße langärmlige Hemd bis zur Taille aufge-knöpft hatte, zerriß Elliott fast das Herz. Es schien ihm plötzlich unrecht, einen Menschen zu beobachten, der etwas mit soviel Hingabe tat. Elliott drehte sich um, ging an Deck und rauchte.
Die große Überraschung war, daß Ramsey so zugänglich war.
Aber das Seltsamste an der ganzen aufregenden Angelegenheit war, wie sehr Elliott dieses geheimnisvolle Geschöpf mochte.
Jedes Mal, wenn er darüber nachdachte, verspürte er regel-rechte Schmerzen. Er mußte oft an seine überstürzt hervorge-brachten Worte zurückdenken. – »Ich möchte Sie kennenlernen.« Wie wahr. Wie aufregend das alles war und wie wunderbar befriedigend.
Und dann die Qual und die Angst: Etwas zu erleben, das jenseits aller Vorstellungskraft lag! Elliott wollte daran teilhaben.
Und wie bemerkenswert, daß sein Sohn Alex Ramsey lediglich eigentümlich und »komisch« fand, aber nicht im geringsten faszinierend. Doch was fand Alex schon faszinierend? Er hatte sich relativ schnell mit etlichen Passagieren angefreundet. Er schien wie immer seinen Spaß zu haben, unabhängig davon, was um ihn herum passierte. Und das wird sein Segen sein, dachte Elliott. Daß er nicht wirklich tief empfindet.
Samir war von Natur aus schweigsam. Er hielt immer still, auch wenn die Wellen zwischen Elliott und Ramsey hoch schlugen. Sein Verhalten gegenüber Ramsey hatte beinahe etwas Religiöses. Er war der ergebene Diener des Mannes geworden, soviel stand fest. Er wurde nur aufgeregt, wenn Elliott Ramsey nach geschichtlichen Details fragte. Ebenso Julie.
»Erklären Sie mir, was Sie damit meinen«, bat Elliott, als Ramsey sagte, das Lateinische habe eine völlig neue Art des Denkens möglich gemacht. »Sicher kamen doch zuerst die Ideen und dann erst die Sprache, die Ideen auszudrücken.«
»Nein, das stimmt nicht. Selbst in Italien, wo die Sprache ihren Anfang nahm, machte sie eine Weiterentwicklung von Ideen möglich, die sonst unmöglich gewesen wäre. Und zweifellos gab es auch im Griechischen diesen Zusammenhang von Sprache und Ideen.
Aber ich will Ihnen etwas Seltsames über Italien erzählen. Ei-ne Kultur konnte sich dort nur deshalb entwickeln, weil das Klima so angenehm ist. Normalerweise braucht eine Kultur den Wandel der Jahreszeiten, um sich weiterzuentwickeln.
Nehmen Sie die Menschen im Dschungel oder aus dem fernen Norden als Beispiel: völlig begrenzt. Es gibt keinen Jah-reszeitenwechsel…«
Ständig unterbrach Julie diesen Vortrag. Elliott konnte es kaum ertragen.
Auch Julie und Samir wurde immer unbehaglich zumute, da Ramsey voller Freude Dinge sagte wie: »Julie, wir müssen so schnell wir können mit der Vergangenheit abschließen. Es gibt soviel zu entdecken. Röntgenstrahlen, Julie, weißt du, was das sind! Und wir müssen mit einem Flugzeug zum Nordpol fliegen.«
Andere fanden solche Bemerkungen äußerst amüsant. Tatsächlich schienen die anderen Passagiere, die allesamt bezaubert waren, Ramsey nicht für ein hochintelligentes Wesen zu halten, sondern eher für ein leicht zurückgebliebenes. Trotz ihrer Bildung errieten sie nie den Grund seiner seltsamen Bemerkungen und behandelten ihn daher freundlich und zuvorkommend, ohne sich allerdings die Mühe zu machen, das, was er bereitwillig
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