Die Muschelsucher
Aber keine Sorge.« Es piepste dreimal in der Leitung. »Du wirst sie bestimmt mögen«, beteuerte er noch einmal und legte rasch auf, ehe sie ihn anflehen konnte, noch ein paar Münzen in den Zahlschlitz zu werfen.
Dolly Keeling starrte auf den summenden Hörer in ihrer Hand und legte dann langsam auf.
Mrs. Musspratt, die an dem kleinen Schreibtisch unter der Treppe saß und so getan hatte, als addierte sie eine Rechnung, während sie ihre Aufmerksamkeit in Wahrheit einzig und allein auf das Telefongespräch gerichtet hatte, blickte auf, legte den Kopf zur Seite wie ein erwartungsvoller Vogel und lächelte fragend. »Hoffentlich gute Neuigkeiten, Mrs. Keeling.« Dolly riß sich zusammen, ruckte den Kopf ein wenig hoch und setzte eine freudige Miene auf. »O ja. Sehr aufregend. Mein Sohn heiratet!«
»Oh, wie schön. Wie romantisch. Diese tapferen jungen Leute. Wann denn?«
»Wie bitte?«
»Wann soll das frohe Ereignis stattfinden?«
»In zwei Wochen. Am ersten Sonnabend im Mai. In London.«
»Und wer ist die Glückliche?«
Sie wurde etwas zu neugierig. Dolly vergaß sich und ließ es sie deutlich merken. »Ich hatte noch nicht das Vergnügen, sie kennenzulernen«, sagte sie würdevoll. »Vielen Dank, daß Sie mich an den Apparat geholt haben, Mrs. Musspratt.« Damit ließ sie die Frau bei ihren Rechnungen und ging in den Gästesalon zurück.
Das Coombe Hotel war vor Jahren der Landsitz einer wohlhabenden Familie, und der Gästesalon war das Wohnzimmer der damaligen Besitzer gewesen. Eine hohe weiße Marmoreinfassung umschloß eine sehr kleine Feuerstelle, und die Einrichtung bestand aus schwellenden Sofas und Sesseln mit einem Bezug aus weißem, mit Rosen gemustertem Leinen. An den Wänden hingen - viel zu hoch -einige Aquarelle, und durch ein breites Rundbogenfenster sah man in den Garten hinaus, der seit Beginn des Kriegs zunehmend verwahrloste. Mr. Musspratt gab sich redliche Mühe mit dem Rasenmäher, aber der Gärtner war eingezogen worden, und die Rabatten waren voller Unkraut.
In dem Hotel wohnten acht Dauergäste, und vier von ihnen hatten sich zusammengetan und bildeten die selbsternannte Elite, den harten Kern der kleinen Gemeinschaft. Dolly war eine von ihnen. Die anderen waren Colonel Fawcett Smythe und seine Frau und Lady Beamish. Sie spielten abends zusammen Bridge und hatten im Salon die besten Sessel, die vor dem Kamin, und im Speiseraum die besten Tische, die am Fenster, in Beschlag genommen. Die anderen mußten sich mit kalten Ecken begnügen, wo das Licht kaum zum Lesen ausreichte, und mit Tischen am Durchgang zur Geschirrkammer, wo es zog. Aber sie waren ohnehin so kümmerlich und so sehr vom Leben gezeichnet, daß es niemandem einfiel, sie zu bedauern. Colonel Fawcett Smythe und seine Frau waren von Kent nach Devon gezogen. Sie waren beide über siebzig. Der Colonel hatte den größten Teil seines Lebens bei der Army gedient und konnte deshalb jedermann erzählen, was dieser Hitler als nächstes anstellen würde, und sich an Hand bruchstückhafter Informationen aus der Tagespresse einen Reim aus Wunderwaffen und Schiffsbewegungen machen. Er war ein kleiner Mann mit braunem Teint und einem borstigen Schnurrbart, doch was ihm an Zentimetern fehlte, machte er mit einer bellenden Stimme, zackigem Gehabe und militärischem Auftreten wett. Seine Frau war ein recht farbloses Wesen mit schütterem Haarflaum auf dem Kopf. Sie strickte eine Menge, sagte sehr oft »Meine Güte« und stimmte allem zu, was ihr Mann von sich gab, was nur gut war, denn wenn jemand Colonel Fawcett Smythe widersprach, wurde der Offizier im Ruhestand krebsrot im Gesicht und sah aus, als werde er jeden Moment vom Schlag getroffen werden.
Lady Beamish war noch besser. Sie war die einzige von ihnen allen, die sich nicht vor Bomben oder Panzern oder all den Greueln fürchtete, die die Nazis ihr antun könnten. Sie war groß und stämmig, über achtzig Jahre alt, und hatte zwei kühl blickende eisgraue Augen. Sie war entschieden gehbehindert (die Folge eines Jagdunfalls, wie sie einem beeindruckten Publikum berichtet hatte) und konnte sich nur mit Hilfe eines dicken Spazierstocks fortbewegen. Wenn sie sich nicht fortbewegte, legte sie das obere Ende des Stocks auf die Lehne ihres Sessels, wo unweigerlich jemand darüber stolperte oder ihn ans Schienbein bekam. Sie war eigentlich gegen ihren Willen ins Coombe Hotel gezogen, um dort das Ende des Krieges abzuwarten, ihr großes Haus in Hampshire war von der Army requiriert
Weitere Kostenlose Bücher