Die Muschelsucher
zurück?«
»Äh. Nein.« Er biß sich auf den Daumennagel und starrte aus dem Fenster, als würde unten auf der Straße gleich etwas Faszinierendes passieren. Was nicht der Fall war. »Sie hat ein bißchen Urlaub.«
»Meine Güte. Wie wenig Zeit ihr für euch habt.«
»Nicht zu ändern.«
»Nein. Wohl nicht.«
Sie wandte sich zur Seite, um ihr Sherryglas hinzustellen, und sah, wie ein Mädchen das Ende der Treppe erreichte, dort stehenblieb und sich umsah, offenbar jemanden suchte. Ein sehr großes Mädchen mit langen dunklen Haaren, die streng aus der Stirn nach hinten gekämmt waren, die Haare eines Schulmädchens, schlicht, ohne die Spur einer Frisur. Das Gesicht mit dem cremeweißen Teint und den großen dunklen Augen fiel wegen des totalen Mangels an Make-up auf - das Schimmern ungepuderter Haut, der blasse Mund, die dunklen, dichten, ungezupften und schön geschwungenen Augenbrauen. Sie trug an diesem warmen Tag Sachen, die sich eher für einen Spaziergang auf dem Land als für einen Lunch in einem Londoner Hotel eigneten. Ein dunkelrotes Baumwollkleid mit weißen Tupfen und einen weißen Gürtel um die schmale Taille. Weiße Sandalen und. Dolly mußte ein zweites Mal hinsehen, um sicher zu sein. Ja, keine Strümpfe. Bloße Beine! Wer beim Himmel mochte sie sein? Und warum blickte sie in ihre Richtung? Und kam auf sie zu? Und lächelte? O barmherziger Gott.
Ambrose stand auf. »Mama«, sagte er, »darf ich dir Penelope vorstellen. «
»Guten Tag«, sagte Penelope.
Dolly konnte gerade noch verhindern, daß sie den Mund aufsperrte. Ihre Kinnbacken ruckten, aber sie preßte die Kiefer aufeinander und verwandelte die Grimasse rasch in ein charmantes Lächeln. Bloße Beine. Keine Handschuhe. Keine Handtasche. Kein Hut. Bloße Beine. Sie hoffte, daß der Oberkellner sie ins Restaurant lassen würde.
»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Sie gaben sich die Hand. Ambrose holte umständlich einen zweiten Stuhl heran und winkte dem Kellner. Penelope saß in dem hellen Licht, das durch das Fenster in den Raum fiel, und sah Dolly mit einem unverwandten, irritierend wirkenden Blick an. Sie taxiert mich, sagte Dolly sich, und merkte, wie sich irgendwo tief in ihr Zorn regte. Sie hatte kein Recht, ihre künftige Schwiegermutter so ungeniert zu mustern. Dolly hatte Jugend erwartet, Schüchternheit, sogar Scheu. Dies ganz gewiß nicht.
»Es ist schön, Sie kennenzulernen. hoffentlich hatten Sie eine gute Fahrt von Portsmouth hierher. Das heißt, Ambrose hat mir schon erzählt.«
»Was möchtest du trinken, Penelope?«
»Einen Apfelsinensaft oder irgendeinen anderen Saft. Mit Eis, wenn es welches gibt.«
»Keinen Sherry? Oder ein Glas Wein?« lockte Dolly, die immer noch lächelte, um ihre Enttäuschung zu verbergen. »Nein. Ich schwitze und habe Durst. Ein Apfelsinensaft ist genau das, was ich brauche.«
»Nun ja, ich habe eine Flasche Wein zum Lunch bestellt. Wir können ja dann anstoßen.«
»Danke.«
»Es tut mir leid, daß Ihre Eltern morgen nicht da sein können.«
»Ja. Es ist schade. Papa hat sich eine Grippe geholt und sich nicht ins Bett gelegt, und jetzt hat er Atembeschwerden. Der Arzt hat gesagt, daß er mindestens eine Woche liegen muß.«
»Ist sonst niemand da, der nach ihm sehen könnte?«
»Außer Sophie, meinen Sie?«
»Sophie?«
»Meine Mutter. Ich sage Sophie zu ihr.«
»Oh, ich verstehe. Ja. Ist sonst niemand da, der Ihren Vater versorgen könnte?«
»Nur Doris, unsere Einquartierung. Aber sie muß sich um ihre beiden Jungen kümmern. Außerdem ist Papa ein sehr schwieriger Patient. Doris hätte keine Chance bei ihm.« Dolly machte eine resignierte Handbewegung. »Ich nehme an, es geht Ihnen wie uns allen, und Sie haben auch keine Dienstboten mehr?«
»Wir haben noch nie welche gehabt«, entgegnete Penelope. »Oh, vielen Dank, Ambrose, ich sterbe vor Durst.« Sie nahm ihm das Glas aus der Hand, trank es - mit einem einzigen Schluck, wie es schien - halb aus und stellte es dann auf den Tisch. »Noch nie? Wollen Sie sagen, Sie hatten noch nie Hilfe im Haus?«
»Nein. Jedenfalls keine Dienstboten. Die Leute, die bei uns wohnten, haben uns manchmal geholfen, aber Dienstboten haben wir nie gehabt.«
» Aber wer kocht denn?«
»Sophie. Sie kocht sehr gern. Sie ist Französin. Sie kann wunderbar kochen.«
»Und die Hausarbeit?«
Penelope blickte ein bißchen verwirrt, als hätte sie noch nie einen Gedanken an die Arbeit im Haus verschwendet. »Ich weiß nicht. Irgendwie wird immer
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