Die Muschelsucher
hatten das Meer hinter sich gelassen und gingen zwischen den kleinen, weißgetünchten Reihenhäusern, in denen meist Fischer wohnten. Eine Tür wurde geöffnet, und eine Katze kam heraus, gefolgt von einer Frau mit einem Korb Wäsche, die sie an eine vor der Hausfassade gespannte Leine hängte. Während sie es tat, kam die Sonne wieder durch, und nun waren ihre Strahlen sehr intensiv. Sie sah sie an und lächelte.
»So ist es schon besser, nicht? Ich glaube, so schlimm wie heute morgen hat es hier noch nie geregnet. Wir werden bald wieder schönes Wetter haben.«
Die Katze schmiegte sich an Penelopes Knöchel. Sie bückte sich, um sie zu streicheln, und dann schritten sie weiter. Sie nahm die Hände aus den Taschen und knöpfte die Öljacke auf. Sie sagte: »Sind Sie wegen des Krieges zur Marineinfanterie gegangen oder weil Sie nicht Börsenmakler werden wollten?«
»Wegen des Krieges. Ich wollte eigentlich sofort an die Front, aber jetzt muß ich Lehrgänge machen. Sie haben jedoch recht, ich wollte nicht Börsenmakler werden. Ich habe Klassische Literatur und Englische Literatur studiert und dann an einem Internat unterrichtet.«
»Haben Sie etwa bei der Marineinfanterie Bergsteigen gelernt?« Er lächelte. »Nein. Ich bin schon lange vorher auf Berge geklettert. Ich war auf einem Internat in Lancashire, und wir hatten dort einen Lehrer, der häufig mit einigen von uns ins Seengebiet fuhr und dort mit uns kletterte. Ich habe mit vierzehn Geschmack daran gefunden und es einfach weiter gemacht.«
»Sind Sie schon in anderen Ländern auf Berge gestiegen?«
»Ja, in der Schweiz und in Österreich. Ich wollte auch nach Nepal, aber es hätte monatelange Vorbereitungen und eine lange Reise erfordert, und ich habe nie die Zeit gehabt.«
»Nach dem Matterhorn müssen die Klippen von Boscarben ein Kinderspiel sein.«
»Nein«, entgegnete er trocken. »Nein, sie sind alles andere als das.« Sie gingen auf den verborgenen gewundenen Gassen, die die Touristen nur selten fanden, weiter den Hügel hinauf, und die Treppen aus Granitstein, die den Weg an besonders steilen Stellen unterbrachen, strengten Penelope so sehr an, daß sie keine Neigung hatte, das Gespräch fortzusetzen. Der letzte Treppenabschnitt führte zwischen dem Bahnhof und der Hauptstraße im Zickzack das Steilufer hinauf und endete gegenüber des alten White Caps Hotel. Penelope war warm geworden, sie lehnte sich an die Mauer und wartete, daß sie wieder zu Atem kam und daß ihr Herz wieder normal klopfte. Major Lomax, der zwei Schritte hinter ihr war, schien der Anstieg nichts ausgemacht zu haben. Sie sah, daß der wachhabende Marineinfanterist auf der anderen Seite der Straße sie musterte, aber sein Gesichtsausdruck gab nichts preis. Als sie wieder reden konnte, sagte sie: »Ich bin total ausgelaugt.«
»Kein Wunder.«
»Ich hab diesen Weg seit Jahren nicht mehr benutzt. Als ich klein war, bin ich immer die ganze Strecke vom Strand hierher gelaufen. Es war so etwas wie ein selbstauferlegter Härtetest.« Sie drehte sich um, legte die Arme auf den Mauerrand und schaute hinunter in den Ort. Das Meer war ruhiger geworden und reflektierte das Blau des aufklarenden Himmels. Unten am Strand führte ein Mann seinen Hund spazieren. Die Böen hatten aufgehört, und nun ging nur noch eine frische Brise, die den feuchten, mooshaltigen Geruch regengetränkter Gärten mitbrachte. Es war ein Geruch, der sehnsüchtige Erinnerungen weckte, und Penelope merkte auf einmal, daß sie eine sorgsam aufgebaute Hülle fallenließ und von einer ganz grundlosen Seligkeit erfüllt wurde, die sie seit ihrer Kindheit nicht mehr empfunden hatte. Sie dachte zurück an die letzten Jahre: die Monotonie, die kärgliche Existenz, den Mangel an allem, worauf man sich freuen konnte. Und nun, in einer einzigen Sekunde, waren die Vorhänge plötzlich wieder zur Seite gezogen worden, und die Fenster dahinter boten einen Blick auf all das Schöne, das die ganze Zeit auf sie gewartet hatte, auf die herrlichsten Möglichkeiten und Aussichten.
Glück - wie in den Tagen vor dem Krieg, vor Ambrose, vor dem tragischen Tod ihrer Mutter. Es war, als wäre sie auf einmal wieder jung. Aber ich bin jung. Ich bin erst dreiundzwanzig. Sie drehte sich zur Seite und sah den Mann an, der neben ihr stand, und war voll Dankbarkeit, denn in gewisser Weise war er es, der dieses Wunder , dieses unbestimmte Gefühl des Déjà vu bewirkt hatte. Sie sah, daß er sie betrachtete, und fragte sich, wieviel er
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