Die Muschelsucher
zweimal die Woche. Wir versäumen keinen Film. In Porthkerris kann man sonst kaum noch etwas unternehmen.«
»Aber vor dem Krieg konnte man?«
»O ja, natürlich, jede Menge. Damals war alles anders. Außerdem waren wir früher im Winter nie hier, sondern in London. Wir hatten ein Haus in der Oakley Street. Das heißt, wir haben es immer noch, aber wir gehen nicht mehr hin.« Sie seufzte. »Wissen Sie, was ich an diesem Krieg mit am schlimmsten finde, ist dieses Eingeengtsein. Ich meine, man sitzt an einem Ort fest. Es ist ein Problem, aus Porthkerris hinauszukommen, es fährt nur noch ein Bus am Tag, und es gibt kein Benzin für den Wagen. Vielleicht ist das der Preis, den man zahlen muß, wenn man wie ein Nomade großgeworden ist. Papa und Sophie sind nie lange an einem Ort geblieben. Wir haben praktisch jeden Vorwand benutzt, um unsere Koffer zu packen und einfach nach Frankreich oder Italien zu fahren. Es machte das Leben herrlich aufregend.«
»Waren Sie das einzige Kind?«
»Ja. Und deshalb sehr verwöhnt.«
»Das glaube ich nicht.«
»Es stimmt aber. Ich war immer mit Erwachsenen zusammen und wurde wie eine Erwachsene behandelt. Meine besten Freunde waren die Freunde meiner Eltern. Aber wenn man bedenkt, wie jung meine Mutter war, klingt das nicht mehr so merkwürdig. Eigentlich war sie mehr wie meine große Schwester.«
»Und sehr schön.«
»Sie denken an ihr Porträt. Ja, sie war wunderschön. Aber sie war vor allem warmherzig und fröhlich und liebevoll. Sie konnte sehr aufbrausend sein, aber im nächsten Augenblick lachte sie wieder. Und sie hatte die Gabe, überall ein Heim zu schaffen. Sie verbreitete Sicherheit und Geborgenheit. Ich kenne niemanden, der sie nicht geliebt hat. Ich denke immer noch jeden Tag an sie. Manchmal wird es mir bewußt, daß sie tot ist. Aber dann gibt es Augenblicke, in denen ich felsenfest davon überzeugt bin, daß sie irgendwo im Haus anwesend ist und daß gleich eine Tür aufgeht und sie hereinkommt. Wir waren aufeinander bezogen - egoistisch, nehme ich an. Wir genügten uns selbst und brauchten keine anderen. Aber unser Haus war trotzdem immer voller Gäste, und viele davon waren Zufallsbekannte, die einfach nicht wußten, wohin sie sonst gehen sollten. Auch Freunde kamen. Und Verwandte. Tante Ethel und die Cliffords waren jeden Sommer für ein paar Wochen in Carn Cottage.«
»Tante Ethel?«
»Papas Schwester. Sie ist eine fabelhafte Person, sehr eigenwillig und ein bißchen exzentrisch. Aber sie war schon eine Ewigkeit nicht mehr bei uns. Ihr Zimmer wird jetzt von Doris und Nancy bewohnt, und außerdem ist sie von London in einen entlegenen Winkel von Wales gezogen, zu närrischen Freunden, die Ziegen züchten und den halben Tag am Webstuhl sitzen. Lachen Sie ruhig, aber es stimmt. Sie hatte immer die verrücktesten Freunde.«
»Und die Cliffords?« fragte er, begierig, mehr zu hören. »Das ist nicht so lustig. Sie können nicht mehr kommen, sie sind tot. Sie sind von derselben Bombe getötet worden wie Sophie.«
»Es tut mir leid. Das habe ich nicht gewußt.«
»Wie hätten Sie auch? Sie waren die liebsten Freunde von Papa. Sie wohnten bei uns in der Oakley Street. Als es geschah, ich meine, als er es am Telefon hörte, wurde er schlagartig ein anderer. Er wurde sehr alt. Ganz plötzlich. Vor meinen Augen.«
»Er ist ein phantastischer Mensch.«
»Er ist sehr stark.«
»Ist er einsam?«
»Ja. Aber das sind wohl die meisten alten Leute.«
»Er kann sich glücklich schätzen, daß er Sie hat.«
» Oh. Ich könnte ihn nie verlassen.«
Sie wurden unterbrochen von Grace, die mit zwei Karaffen Weißwein durch die Pendeltür geeilt kam.
»Da wären wir.« Sie stellte sie mit einem weiteren, sorgsam vor den anderen Gästen versteckten Zwinkern auf den Tisch. »Und jetzt muß ich leider verdunkeln, weil wir gleich Licht machen müssen.« Sie zog die Vorhänge zu und schob sie rechts und links geschickt an den Rahmen, so daß kein Lichtstrahl nach draußen fallen konnte. »Habt ihr euch schon ausgesucht, was ihr essen wollt?«
»Wir haben die Speisekarte noch nicht einmal angeschaut. Was würdest du empfehlen?«
»Ich würde die Muschelsuppe nehmen und dann die Fischpastete. Das Fleisch ist diese Woche fast ungenießbar. Zäh wie Leder und lauter Knorpel.«
»Gut, nehmen wir die Suppe und die Fischpastete.«
»Und schönen frischen Broccoli und grüne Bohnen? Sehr gut. Kommt sofort.«
Sie entfernte sich und räumte im Vorbeigehen die Teller von den
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