Die Muschelsucher
und verloren, sagte sie sich, als gar nicht geliebt zu haben. Sie wußte, daß es so war.
Die vergoldete Kutschenuhr auf dem Kaminsims schlug sechs. Die Nacht war vorbei. Es war Morgen. Schon wieder Donnerstag. Was geschah nur mit den Tagen? Während sie versuchte, dieses Rätsel zu entwirren, fiel ihr ein, daß zwei Wochen verflogen waren, seit Roy Brookner da gewesen war und die Tafelbilder und Skizzen mitgenommen hatte. Und sie hatte immer noch nichts von ihm gehört.
Sie hatte auch noch nichts von Noel und Nancy gehört. Nach jenem Streit, der immer noch zwischen ihnen gärte, waren sie einfach fortgefahren und hatten sich nicht wieder gerührt, ihre Mutter fürs erste von der Liste gestrichen. Es machte ihr längst nicht so viel aus, wie ihre Kinder wahrscheinlich glaubten. Irgendwann würden sie bestimmt wieder ankommen, nicht, um sich zu entschuldigen, sondern um so weiterzumachen wie zuvor, als ob nichts Unangenehmes geschehen wäre. Sie hatte bis dahin zuviel zu bedenken und zu tun, und sie wollte keine Energie verschwenden, indem sie über beleidigte Kinder und verletzte Gefühle nachgrübelte. Es gab Dinge, an die zu denken sich mehr lohnte, und viel zu viel Arbeit. Das Haus und der Garten hatten wie üblich den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit beansprucht. Jetzt, im April, war kein Tag wie der andere. Grauer Himmel, stumpfgraue Blätter, heftige Regengüsse und dann wieder strahlender Sonnenschein. Die Forsythien blühten goldgelb, und die Obstwiese verwandelte sich in einen Teppich von Narzissen, Veilchen und Primeln.
Donnerstag. Nachher würde Danus kommen. Und vielleicht würde Roy Brookner heute aus London anrufen. Während sie diese Möglichkeit erwog, gewann sie immer mehr die Überzeugung, daß er heute anrufen würde. Es war mehr als ein unbestimmtes Gefühl. Stärker als das. Eine Vorahnung.
Der einsame Vogel hatte inzwischen Gesellschaft bekommen, und nun zwitscherten draußen im Garten wenigstens zehn oder zwölf gefiederte Gesellen. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie stand auf, knipste die Lampe aus und ging nach oben, um sich ein sehr warmes und sehr üppiges Bad einlaufen zu lassen.
Ihre Vorahnung erwies sich als richtig, und das Telefon klingelte mitten beim Lunch.
Der schöne Morgen war von einem grauen, verhangenen und regnerischen Tag abgelöst worden, der nicht dazu verleitete, draußen ein Picknick zu machen oder auch nur im Wintergarten zu essen. So saßen sie - sie, Antonia und Danus - am Küchentisch vor einer gewaltigen Menge Spaghetti bolognese und einer Platte mit Gemüserohkost. Wegen des schlechten Wetters hatte Danus den Vormittag damit verbracht, die Garage auszuräumen. Penelope war zum Sekretär gegangen, um eine Telefonnummer herauszusuchen, und hatte sich, von dem Klappern draußen abgelenkt, einfach hingesetzt und Ordnung geschaffen, seit langem fällige Rechnungen bezahlt, alte Briefe noch einmal gelesen und eine Reihe von Jahresberichten fortgeworfen, die sie aus Desinteresse nicht einmal aus dem Umschlag genommen hatte. Antonia hatte das Essen gemacht. »Du bist nicht nur eine ausgezeichnete Gärtnergehilfin, sondern auch eine erstklassige Köchin«, sagte Danus zu ihr, während er Parmesankäse über seine Spaghetti rieb. Das Telefon klingelte. Antonia sagte: »Soll ich abnehmen?«
»Nein.« Penelope legte die Gabel hin. »Wahrscheinlich ist es sowieso für mich.« Sie benutzte nicht das Telefon in der Küche, sondern ging ins Wohnzimmer und machte die Türen hinter sich zu. »Hallo.«
»Mrs. Keeling?«
»Ja, am Apparat.«
» Hier Roy Brookner.«
»Guten Tag, Mr. Brookner.«
»Entschuldigen Sie, daß ich mich erst heute wieder melde, Mrs. Keeling. Mr. Ardway hat Freunde in Gstaad besucht und ist erst vor ein paar Tagen nach Genf zurückgekommen, wo er im Hotel meinen Brief vorfand. Er ist heute morgen in Heathrow gelandet und sitzt jetzt hier in meinem Büro. Ich habe ihm die Tafelbilder gezeigt und ihm gesagt, daß sie bereit seien, sie privat zu verkaufen, und er ist sehr froh über diese Gelegenheit. Er hat fünfzigtausend für jedes geboten. Das sind hunderttausend für die beiden. Pfund natürlich, nicht Dollar. Wäre das für Sie akzeptabel, oder würden Sie lieber ein paar Tage darüber nachdenken? Er würde gern morgen nach New York zurückfliegen, aber er ist bereit, noch ein wenig zu warten, wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie noch etwas Zeit brauchen, um zu einer Vereinbarung zu kommen. Meine persönliche Meinung ist, daß es ein sehr
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