Die Muschelsucher
flachen Felsbuckel erreichten, der ein Stück über dem Wasser hing, legte er sie hin und schritt zum Rand des Steins. Er ging in die Hocke, schnellte hoch und hechtete ins Wasser, das kaum aufspritzte, als er eintauchte. Antonia hechtete hinterher. Sie tauchten auf und schwammen und zogen dabei sonnenglänzende Tropfendolden über die Oberfläche. Sie hörte ihre erhobenen Stimmen, ihr Lachen. Es war gut, und etwas Gutes ist nie verloren. Richards Stimme. Er sieht aus wie Richard. Sie hatte nie mit Richard geschwommen, weil sie eine Kriegsbeziehung gehabt hatten, eine Liebe im Winter, doch als sie nun Danus und Antonia beobachtete, spürte sie wieder die Betäubung beim ersten Eintauchen in kaltes Wasser, und sie spürte sie mit einer physischen Intensität, die über bloßes Erinnern hinausging. Sie erinnerte sich an das kurz danach einsetzende Hochgefühl, das grenzenlose Behagen, so deutlich, als ob ihr Körper noch jung wäre und noch nicht gezeichnet von den unerbittlichen Spuren der Jahre. Und es gab andere Frauen, eine andere Seligkeit. Der überwältigend süße Kontakt von Händen, Armen, Lippen, Körpern. Der Friede nach der gestillten Leidenschaft. Die Lust, zu erwachen und einen schläfrigen Kuß zu tauschen und ohne jeden Grund zu lachen. Ganz früher, als sie noch sehr klein gewesen war, hatte Papa sie mit den faszinierenden Möglichkeiten eines Zirkels mit einer spitzen Bleistiftmine bekannt gemacht. Sie hatte gelernt, Muster zu zeichnen, geometrische Blüten. Blütenblätter und Kurven, aber nichts hatte ihr so viel Vergnügen bereitet, wie auf einem schneeweißen Blatt Papier einfach einen Kreis zu ziehen. Es war so schön, so perfekt. Das Bleistiftende bewegte sich und hinterließ eine Linie und erreichte mit wundersamer Endgültigkeit genau den Punkt wieder, wo es begonnen hatte.
Ein Kreis war seit altersher das Symbol der Unendlichkeit, der Ewigkeit. Wenn ihr eigenes Leben jene sorgsam gezogene Bleistiftlinie war, dann wußte sie, daß die beiden Enden jetzt nur noch ein kleines Stück voneinander entfernt waren. Ich habe den Kreis durchmessen, sagte sie sich und fragte sich, was mit all den Jahren geschehen war. Es war eine Frage, die ihr von Zeit zu Zeit ein bißchen angst machte und das nagende Gefühl hinterließ, etwas verschwendet zu haben. Aber nun schien sie auf einmal belanglos geworden zu sein, und deshalb war die Antwort, wie immer sie lauten mochte, nicht mehr wichtig.
»Olivia.«
»Mama! Was für eine schöne Überraschung.«
»Mir ist eingefallen, daß ich dir nicht mal frohe Ostern gewünscht habe. Entschuldige, aber vielleicht ist es noch nicht zu spät. Außerdem war ich nicht sicher, ob ich dich erreichen würde. Ich dachte, du wärst vielleicht noch fort.«
»Nein. Ich bin vorhin zurückgekommen. Ich war auf der Insel Wight.«
»Wo hast du gewohnt?«
»Bei den Blakisons. Erinnerst du dich an Charlotte? Sie war bei Venus für Essen und Rezepte zuständig und ist dann gegangen, weil sie geheiratet hat und Kinder haben wollte.«
»Wares schön?«
»Himmlisch. Wie immer. Eine große Party. Und sie hat alles mit links organisiert und tausend Sachen gekocht und gemacht, ohne daß man ihr etwas anmerkte.«
»War der nette Amerikaner mit?«
»Der nette Amerikaner? Oh, du meinst Hank. Nein, er ist wieder in den Staaten.«
»Ich fand ihn ausnehmend sympathisch.«
»Ja, das war er. Das ist er. Er wird dich sicher anrufen, wenn er wieder nach London kommt. Aber jetzt erzähl von dir, Mama. Wie ist es dort?«
»Wir haben viel Spaß und leben in einem unbeschreiblichen Luxus.«
»Wird auch mal Zeit, nach all den Jahren. Antonia hat mir einen langen Brief geschrieben. Sie scheint sehr glücklich zu sein.«
»Sie und Danus sind heute den ganzen Tag unterwegs. Sie sind mit dem Wagen zur Südküste gefahren, um einen jungen Mann zu besuchen, der eine Gärtnerei hat. Das heißt, wahrscheinlich sind sie jetzt schon zurück.«
»Wie macht Danus sich?«
»Er ist ein großer Erfolg.«
»Magst du ihn immer noch so sehr?«
»Ja. Wenn nicht noch mehr. Aber ich habe nie jemanden gekannt, der so verschlossen ist. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß er aus Schottland kommt.«
»Hat er dir erzählt, warum er nicht trinkt und nicht Auto fährt?«
»Nein.«
»Wahrscheinlich hat er einen Entzug gemacht und will unbedingt trocken bleiben.«
»Wenn ja, ist es seine Sache.«
»Erzähl, was ihr alles gemacht habt. Hast du Doris besucht?«
»Natürlich. Sie ist ganz die alte. Genauso
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