Die Muschelsucher
Besorgnis wurzelte zum Teil darin, daß sie, wie jedesmal, wenn sie ihre Mutter längere Zeit nicht gesehen hatte, befürchtete, Penelope könne sich geändert haben. Nicht unbedingt, daß sie plötzlich älter aussehe, aber daß sie müde und erschöpft wirke, oder auf irgendeine nicht gleich sichtbare Weise angegriffen, kleiner als vorher. Doch ihre Angst legte sich in dem Moment, in dem sie sie sah. Es war alles in Ordnung. Penelope wirkte so lebhaft wie immer und wunderbar distinguiert. Sie war groß und hielt sich kerzengerade, sie hatte ihr volles graumeliertes Haar zu einem Knoten gesteckt, ihre Augen blitzten fröhlich, und selbst der Kampf mit dem Gepäckwagen konnte ihrer natürlichen Würde keinen Abbruch tun. Sie hatte, wie üblich, wenigstens ein Dutzend Taschen und Körbe bei sich und trug ihr altes blaues Cape, ein Deckscape, das sie nach dem Krieg von der verarmten Witwe eines Navy-Offiziers gekauft hatte und seitdem immer und bei jeder Gelegenheit von Hochzeiten bis zu Beerdigungen trug.
Und Antonia. Olivia sah ein hoch aufgeschossenes und schmales Mädchen, das älter als dreizehn wirkte. Es hatte langes, glattes, rotblondes Haar und trug Jeans, ein T-Shirt und eine rote Baumwolljacke.
Für eine längere Musterung war keine Zeit. Cosmo hob die Arme und rief den Namen seiner Tochter, und die beiden erblickten sie. Antonia löste sich von Penelope und dem Gepäckwagen und kam mit wehendem Haar, in einer Hand ein Paar Schwimmflossen und in der anderen einen Segeltuchsack, auf sie zugerannt, bahnte sich einen Weg durch die mit Gepäckstücken beladenen Passagiere und flog in Cosmos Arme. Er hob sie hoch und schwang sie herum, so daß ihre langen dünnen Beine fast waagerecht abstanden, gab ihr einen herzhaften Kuß und setzte sie wieder ab. »Du bist größer geworden«, sagte er vorwurfsvoll. »Ich weiß, fast drei Zentimeter!«
Sie wandte sich zu Olivia. Sie hatte Sommersprossen auf der Nase und einen vollen, hübschen Mund, zu groß für ihr herzförmiges Gesicht, und ihre Augen waren graugrün und hatten lange, dichte, sehr helle Wimpern. Sie blickten offen und freundlich, sehr interessiert.
»Hallo. Ich bin Olivia.«
Antonia wand sich aus den Armen ihres Vaters, schob die Schwimmflossen unter den Arm und streckte die Hand aus. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.«
Und als Olivia in das junge, aufgeweckte Gesicht hinunterblickte, wußte sie, daß Cosmo recht gehabt hatte und daß all ihre Befürchtungen grundlos gewesen waren. Von Antonias Charme und Natürlichkeit erobert, nahm sie die ausgestreckte Hand und drückte sie herzlich. »Ich freue mich, daß du da bist«, sagte sie, und als das so gut überstanden war, überließ sie Vater und Tochter einander und wandte sich ihrer Mutter zu, die nun mit dem Gepäckwagen näherkam. Penelope breitete in einer ihrer überschwenglichen Gesten wortloser Freude die Arme aus, und Olivia warf sich hinein, um sie an sich zu drücken und gedrückt zu werden, um das Gesicht an die kühle feste Wange ihrer Mutter zu legen und den altvertrauten Duft von Patschuli zu riechen.
»Oh, mein kleiner Liebling«, sagte Penelope, »ich kann es nicht glauben, daß ich wirklich hier bin.« Dann traten Cosmo und Antonia zu ihnen, und sie fingen alle vier auf einmal zu reden an. »Cosmo, das ist meine Mutter, Penelope Keeling.«
»Habt ihr euch in Heathrow auch gleich getroffen?«
»Ja, sofort, ich hatte eine Zeitung unter dem Arm und eine Rose zwischen den Zähnen.«
»Daddy, es war ein sehr lustiger Flug. Jemandem ist schlecht geworden.«
»Ist das alles Gepäck?«
» Wie lange mußtet ihr in Valencia warten?«
»... und die Stewardeß hat über einer Nonne ein ganzes Glas Orangensaft verschüttet.«
Schließlich bekam Cosmo die Situation unter Kontrolle, bemächtigte sich des Gepäckwagens und führte sie aus dem Terminal in das warme, samtblaue sternenbeschienene Dunkel, das von Benzingeruch und dem Zirpen von Zikaden erfüllt war. Irgendwie gelang es ihnen, sich samt Gepäck in den Deux Chevaux zu zwängen, Penelope vorn und Olivia und Antonia hinten. Aus Platzmangel mußten sie einen Großteil des Gepäcks auf den Schoß nehmen, und dann fuhren sie endlich los.
»Wie geht es Maria und Tomeu?« wollte Antonia wissen. »Und den Zwerghühnern? Und Daddy, weißt du was, ich habe eine Eins in Französisch. Oh, sieh mal, da ist eine neue Disco. Und eine Rollschuhbahn. Oh, wir müssen Rollschuh laufen. Daddy, machen wir das? Und ich möchte jetzt endlich Surfen
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