Die Muschelsucher
Illusion aufrechtzuerhalten, daß sie eine zärtliche und kameradschaftliche Beziehung hatten - selbst wenn sie die einzige war, die diese Illusion ernst nahm. »Hallo, Liebling. Hast du einen guten Tag gehabt?«
»Es ging.«
Er stellte die Aktentasche auf den Küchentisch und nahm die Times heraus. »Sieh dir das hier an.«
Nancy staunte über seine Mitteilsamkeit. Meist begrüßte er sie abends nur mit einem Grunzen und zog sich bis zum Essen in die Bibliothek zurück, um eine Stunde lang ungestört zu sein. Es mußte etwas Wichtiges passiert sein. Sie hoffte, daß es keine Atombombe war. Sie wandte sich vom Rosenkohl ab, trocknete ihre Hände und trat neben ihn. Er schlug die Kunstseite auf, breitete die Zeitung auf dem Tisch aus und zeigte mit seinem langen weißen Zeigefinger auf eine schwarz umrandete Rubrik.
Sie blinzelte hilflos auf die verschwimmenden Buchstaben. Sie sagte: »Ich habe meine Brille nicht hier.« Er seufzte resigniert. Sie war hoffnungslos unorganisiert und untüchtig. »Die Auktionsberichte, Nancy. Gestern ist das Bild deines Großvaters bei Boothby’s versteigert worden.«
»Oh, war es gestern?« Sie hatte Die Wasserträgerinnen nicht vergessen, im Gegenteil. Sie hatte in einem fort an das Gespräch denken müssen, das sie mit Olivia beim Essen im L’Escargot gehabt hatte, aber ihre Gedanken hatten sich mehr und mehr auf den mutmaßlichen Wert der Bilder konzentriert, die in Podmore’s Thatch hingen, und sie hatte kaum noch an das Datum der Auktion gedacht. Sie hatte Daten noch nie gut behalten können. »Weißt du, was es gebracht hat?« Nancy öffnete den Mund und schüttelte den Kopf. »Zweihundertfünfundvierzigtausendachthundert Pfund.«
Er sprach die inhaltsschweren Worte sehr langsam, damit sie sie richtig verstehen konnte. Nancy wurde es schwach in den Knien. Sie stemmte die Hand auf die Tischplatte, um nicht zu fallen, und starrte ihn wortlos an.
»Ein Amerikaner hat es gekauft. Es ist unerhört. Alles, was irgendeinen Wert hat, geht ins Ausland.«
Endlich fand sie die Stimme wieder. »Es war ein scheußliches Bild«, erklärte sie.
George lächelte dünn, ohne eine Spur von Humor. »Zum Glück für Boothby’s und den Vorbesitzer sind nicht alle deiner Meinung.« Doch Nancy nahm die Spitze kaum wahr. Sie sagte: » Olivia hat also nicht weit daneben geschätzt.«
»Was soll das heißen?«
»Wir haben neulich im L’Escargot darüber gesprochen. Sie hat geschätzt, daß es ungefähr soviel bringen würde.« Sie sah George an. »Und sie hat geschätzt, daß Die Muschelsucher und die beiden anderen Bilder, die Mutter noch hat, wahrscheinlich eine halbe Million wert sind. Vielleicht hat sie damit auch recht.« George sagte: »Ganz sicher. Olivia irrt sich ja nur selten, egal, worum es geht. In den Kreisen, in denen sie verkehrt, bekommt man ja genug mit, wenn man seine Nase in alles reinsteckt.« Nancy griff nach einem Stuhl, um ihren Beinen eine Ruhepause zu verschaffen. Sie sagte: »George, glaubst du, Mutter weiß, was sie wert sind?«
»Vermutlich nicht.« Er schürzte die Lippen. »Ich sollte mit ihr sprechen. Wir sollten die Versicherungssumme erhöhen. Es braucht ja nur jemand ins Haus spazieren und die Bilder von der Wand nehmen. Soweit ich weiß, hat sie noch nie in ihrem Leben eine Tür abgeschlossen.«
Nancy wurde ganz aufgeregt. Sie hatte George vorher nichts von dem Gespräch mit Olivia erzählt, weil er ihre Schwester nicht mochte und Desinteresse für alles bekundete, was sie sagte oder sagen könnte. Aber jetzt, da er das Thema selbst angeschnitten hatte, war es viel einfacher.
Sie schmiedete das Eisen, solange es heiß war. »Vielleicht sollten wir hinfahren und Mutter besuchen«, sagte sie. »Und über alles sprechen.«
»Du meinst, über die Versicherung?«
»Wenn die Prämie zu hoch wird, ist sie vielleicht.« Ihre Stimme wurde belegt. Sie räusperte sich. »Ich meine, vielleicht überlegt sie sich dann, ob es nicht das beste wäre, sie zu verkaufen. Olivia hat gesagt, die Preise für diese alten viktorianischen Bilder hätten ein noch nie dagewesenes Niveau erreicht« - das klang herrlich druckreif, wie aus dem Wirtschaftsteil, und Nancy war stolz auf sich - , »und es wäre ein Jammer, die Chance zu verpassen.« Diesmal schien George die Meinung ihrer Schwester ernst zu nehmen. Er schürzte wieder die Lippen, las die Meldung noch einmal und faltete die Zeitung dann säuberlich zusammen. Er sagte: »Wie du willst.«
»O George. Eine halbe
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