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Die Muse des Mörders (German Edition)

Die Muse des Mörders (German Edition)

Titel: Die Muse des Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Wedler , Nadine d'Arachart
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immer das Manuskript zur Brust genommen, es genau studiert und aufgesagt, bis jede Betonung und jede noch so kleine Geste stimmte. Der Gerichtssaal war seine Bühne gewesen und obwohl er stets behauptet hatte, dass ihn die Arbeit langweilte, hatte er sich voller Enthusiasmus in jeden neuen Fall gestürzt. 
    Madeleine betrachtete ein Original eines unbekannten Künstlers, das die Wand zwischen Bad und Schlafzimmer zierte. Das Bild zeigte ein Wirrwarr aus geometrischen Formen, die ineinandergriffen und einander zu verdecken versuchten. Sie hatte es nie besonders gemocht, aber jetzt, da ihr bewusst wurde, dass sie es wahrscheinlich zum letzten Mal sah, vermisste sie es schon. Während unten der Kaffeeautomat ratterte, betrat Madeleine das Schlafzimmer. Sie hörte Lucy eine melancholische Melodie vor sich hin summen und sperrte die Musik aus, indem sie schnell die Tür hinter sich schloss. Pauls Bett war hölzern und so wuchtig, dass es gut die Hälfte des Raumes einnahm, doch es passte perfekt zu dem Schreibtisch im Kolonialstil unter dem Fenster. Sie trat darauf zu und betrachtete die Schubladen, die in die Beine eingelassen waren. Er hatte ihr gesagt, in welcher davon er sein Testament aufbewahrte, doch sie hatte es sich nicht gemerkt, hatte den Gedanken fortgeschoben, als würde das noch lange keine Rolle spielen. Madeleine durchsuchte die offenen Fächer und fand allerhand Karteikarten mit Notizen zu einzelnen Fällen. Auch die rechte oberste Schublade war mit bunten Kärtchen angefüllt. Madeleine hatte Pauls Sinn für Ordnung stets bewundert. Einen Wust aus Zetteln wie bei ihr gab es bei ihm nicht.
    Die zweite Schublade beinhaltete Stifte, einen Notizblock und einen dicken ledernen Hefter. Das musste er sein, der Ordner mit seinen wichtigsten Dokumenten. Madeleine zog ihn hervor und öffnete ihn behutsam wie ein sakrales Relikt. Flüchtig las sie über das erste Blatt und stutzte. Was sie hier gefunden hatte, war mit Sicherheit kein Testament. Sie blätterte um und überflog auch die zweite Seite. Ein ungutes Gefühl machte sich in ihr breit und die Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. 
    Schnell blätterte sie zum dritten Blatt, dann weiter und ihr Erstaunen wurde zu Entsetzen. Was sie hier in den Händen hielt, waren Briefe. Datierte Briefe, die von einem Tag im Juni dieses Jahres bis zurück in die Siebziger reichten. Es mussten um die achtzig Blatt sein, mal kariert, mal liniert, aber immer bedeckt mit Pauls gut leserlicher Handschrift. Alle waren an sie adressiert. 
    »Liebste Madeleine«, war in der Kopfzeile jedes Briefes zu lesen, was an sich nicht ungewöhnlich war. Wenn einer von ihnen auf Reisen gewesen war, hatten sie einander häufig geschrieben. Das Unheimliche an diesen Briefen war jedoch, dass keiner vollendet war, dass er sie ihr nie geschickt hatte und dass sie sich ausnahmslos um seine Gefühle zu ihr drehten. Sie hatte zu große Skrupel, um die Briefe, die sie ganz offensichtlich nicht hatte bekommen sollen, zu lesen, doch die wenigen Exemplare, die sie überflog, waren aufschlussreich genug. Sie beinhalteten Phrasen wie »So kann das mit uns nicht weitergehen« oder weniger drastisch »Da gibt es etwas, das ich dir sagen muss«. Es ging um Liebe. Um Zuneigung und Sehnsucht. 
    Madeleine schlug den Ordner zu und spürte, wie Tränen ihre Augen füllten. All die Jahre über hatte sie geglaubt, dass Paul ihr zwangloses und in jeder Hinsicht loses Verhältnis genoss. Dass er zufrieden war.
    Scheinbar war das nie der Fall gewesen und er hatte sich jahrzehntelang mit seinen Gefühlen gequält. Nun wurde ihr einiges klar. Als sie jünger gewesen waren, hatten sie oft über die Zukunft gesprochen und Paul hatte stets betont, dass er sich eine Familie wünschte. Nachkommen. Dass er sie in der Rolle seiner Ehefrau gesehen hatte, begriff sie erst jetzt, vielleicht weil sie sich selbst so gar nicht in der Rolle der Ehefrau von irgendwem hatte sehen können. 
    Nachdem sie sich von ihrem besitzergreifenden Bruder gelöst hatte, hatte sie selbstständig sein wollen. Sie hatte sich nie vorstellen können, Mutter zu werden, und selbst als sie für einige Jahre eine junge Waise bei sich aufgenommen hatte, hatte dies ihren Wunsch nach eigenen Kindern nicht geweckt. War sie die ganzen Jahre über eine rücksichtslose Egoistin gewesen? Wie blind sie gewesen war. Sie schüttelte den Kopf und hinderte sich selbst daran, einen weiteren Blick in Pauls Briefe zu werfen. Es wäre nicht richtig, sie zu lesen,

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