Die Muse des Mörders (German Edition)
und es wäre absolut sinnlos, denn spätestens jetzt gab es nicht mehr den Hauch einer Chance, etwas zu ändern. Voll bitterer Resignation legte Madeleine die Mappe zurück und machte sich wieder auf die Suche.
»Kaffee ist fertig«, rief Lucy von unten, noch immer um Lockerheit bemüht. Doch Madeleine war zu erschüttert, um sich aufmuntern zu lassen. Sie öffnete die letzte Schublade und fand endlich, wonach sie gesucht hatte. Eine dünne lederne Mappe, in der Pauls wichtigste Papiere lagen. Sie schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter, blickte sich ein letztes Mal um und straffte die Schultern. Schnellen Schrittes verließ sie das Zimmer.
17.
23:45 Uhr. Fast Mitternacht. Das schwerfällige Riesenrad drehte sich gemächlich und ließ Gondel für Gondel die letzten Gäste des Abends aussteigen. Maries Kabine stand auf halber Höhe, sodass sie noch eine recht passable Aussicht auf den Prater hatte. Sie ließ den Blick über die Gassen wandern, vorbei an den bunten Buden und Fahrgeschäften. Sie entdeckte ein paar verliebte Paare, wenige Touristen und viele Polizisten, die dafür sorgten, dass zumindest hier das unbeschwerte Leben seinen gewohnten Gang gehen konnte, aber Oliver war nirgends zu sehen. Er hatte ihr eine E-Mail geschrieben, in der er sie gebeten hatte, gegen Mitternacht erreichbar zu sein. Wo und wie hatte er nicht gesagt. Er befürchtete, dass ihr Vater seine Nachrichten abfangen könnte, deshalb hielt er sich so bedeckt.
Die E-Mail hatte Marie kurz nach der Schule erreicht. Seitdem hatte sie ihr Handy nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen, obwohl sie hoffte, dass er sich persönlich bei ihr melden würde. Das Wiener Riesenrad war seit jeher ihr geheimer Treffpunkt. Hier, über den Dächern der Stadt, hatten sie sich das erste Mal geküsst, hier hatten sie ihre Zukunftspläne geschmiedet.
Ruckelnd setzte sich Maries Gondel erneut in Bewegung und sank nun in sanftem Tempo nach unten. Seufzend erhob sie sich und sah sich ein letztes Mal um. Oliver würde wohl nicht mehr kommen.
Marie streifte zwischen den Ständen umher, deren Besitzer gerade dabei waren, zu schließen. Obwohl es Zeit war, wollte sie noch nicht nach Hause. Die Stimmung dort war um einiges angespannter als in der Öffentlichkeit. Seit ihr Vater Oliver aus seinem Betrieb geworfen hatte, war er vorsichtiger denn je. Er durfte nicht erfahren, dass sie sich aus dem Haus geschlichen hatte. Nach dem letzten Leichenfund hatte er seine Sicherheitsmaßnahmen so verstärkt, dass seine Sorge beinahe krankhaft wirkte. So sehr Marie ihren Vater auch liebte, manchmal wünschte sie sich eine Mutter, die Verständnis für sie aufbrachte und mit sich reden ließ. Die sie nicht nur als schwaches Mädchen sah.
Marie zog ihre Jacke enger um die Schultern. Sie hatte den Rand des Praters erreicht und die blinkenden Lichter hinter sich gelassen. Kurz dachte sie darüber nach, mit der Bahn nach Hause zu fahren, aber dann beschloss sie, in eines der Taxis zu steigen, die abseits auf Fahrgäste warteten. Wie ihr Vater es ihr eingebläut hatte, suchte sie nach einer Fahrerin, doch sie hatte kein Glück. Schließlich stieg sie auf die Rückbank des nach Vanille duftenden Wagens eines älteren Mannes mit Schnurrbart. Er sah nett aus und Marie machte sich keine Gedanken. Sie nannte ihre Adresse, blickte dann aus dem Fenster und hoffte, nicht in Small Talk verwickelt zu werden, denn darin war sie nicht sehr gut. Zu ihrem Bedauern lief das Radio nicht. Das Schweigen, unterbrochen vom schwerfälligen Atmen des Fahrers, wurde immer unangenehmer.
Marie hob den Blick und konzentrierte sich auf die wenigen Sterne, die am Himmel zu sehen waren. Obwohl sie den Anblick normalerweise mochte, deprimierte er sie heute. Ihr Besuch im Prater hatte ihr gezeigt, wie allein sie ohne Oliver war. Seit er fort war, fühlte sie sich nur noch wie ein halber Mensch. Verstohlen sah sie nach vorn zum Fahrer und fragte sich, ob er wohl eine Frau hatte. Sie versuchte gerade, einen Ring an seinem Finger zu entdecken, als ihr Handy klingelte. Vor Schreck zuckte sie zusammen, zeitgleich drückte sie auf »Annehmen« und hob das Telefon ans Ohr.
»Oliver!« Ihre Stimme überschlug sich vor Freude.
»Süße, geht es dir gut?«
Marie nickte, bevor ihr klar wurde, dass er sie nicht sehen konnte.
»Ja. Gott sei Dank meldest du dich.«
Er lachte leise. Sie liebte sein Lachen.
»Natürlich melde ich mich, mach dir nicht immer so viele Gedanken. Ich habe
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