Die Muse des Mörders (German Edition)
unschuldig, das müssen Sie mir glauben.« Genau wie gestern Abend betete sie die Worte herunter wie ein Mantra.
»Ich werde nachher versuchen, irgendetwas in Erfahrung zu bringen«, sagte Madeleine. »Ich werde sehen, was ich tun kann, Marie.« Ihre Worte klangen steifer und kühler, als ihr lieb war, doch es fiel ihr schwerer, als sie geglaubt hatte, dem Mädchen Trost zu spenden. Sie hatte keine Reserven, aus denen sie schöpfen konnte, auch wenn ihr Maries Verzweiflung naheging. Erst jetzt sah sie, dass das Mädchen außer einem Zipfel des Pullovers noch etwas in der Hand hielt. Das schwarzweiße Bild stammte wohl aus einem Fotoautomaten. Es war zerknittert und ausgeblichen.
»Was ist das für ein Foto?«, fragte sie, obwohl sie sich die Antwort denken konnte.
Marie blickte auf, sah selbst auf das Bild und hielt es Madeleine dann hin.
»Das haben wir im Sommer gemacht, Oliver und ich.« Sie zog die Nase hoch. »So sieht doch kein Mörder aus.«
Madeleine nahm das Foto, hielt es vor ihre schlechten Augen und es dauerte einen Moment, bis es sich scharfgestellt hatte. Sie spürte, wie sich alles in ihr verkrampfte. Entgeistert starrte sie den jungen Mann an, der auf dem Foto die strahlende Marie auf die Wange küsste. Er trug keine Kapuze und der irre, panische Ausdruck in seinem Blick fehlte, doch es war eindeutig der Verrückte, der ihr vorgestern bei der Lesung den Zettel zugeworfen hatte. Demzufolge war es auch der, der Donnerstagnacht hier aufgetaucht war. Madeleine schluckte hart und Marie merkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte.
»Was?« Das Mädchen setzte sich auf.
»Marie, das …« Madeleine suchte nach den richtigen Worte, dann schüttelte sie den Kopf und gab ihr wortlos das Bild wieder.
»Was?« Diesmal klang Marie deutlich schriller.
Madeleine holte Luft. Sie war sich nun nicht mehr so sicher, dass es richtig gewesen war, das Mädchen herzubringen. Vielleicht hatte sie sich da zu viel zugemutet.
»Marie, dieser junge Mann war vorige Woche hier und hat mein Hausmädchen mit einem Messer angegriffen. Vorgestern hat er mich damit bedroht, dass etwas Schreckliches passieren wird. In der Nacht darauf starb dein Vater.«
Marie starrte sie sekundenlang nur an, dann schüttelte sie heftig den Kopf.
»Nein. Nein, das muss ein Irrtum sein. Er hat sogar noch versucht, meinen Vater zu retten, hören Sie?« Wut schwang in ihrer Stimme mit.
Madeleine nahm die Hand von Maries Schulter und stand langsam auf, um sie nicht noch mehr aufzuregen. Sie war unruhig. Was wusste sie schon über Marie Kardos?
»Er ist unschuldig, ganz egal, was Sie sagen.«
Madeleine schüttelte den Kopf.
»Für mich sieht das im Moment anders aus.«
»Sie irren sich aber!« Marie streckte Madeleine in hilflosem Zorn das Foto entgegen. »Sehen Sie ihn sich an. Er ist mein Freund und wir lieben uns und er ist ganz sicher kein Mörder.«
»Das eine muss das andere ja nicht unbedingt ausschließen.« Vielleicht war es gemein von ihr, Marie zu verdächtigen, doch sie hatte sich in ihrem Leben schon oft genug in Menschen getäuscht und es später bitter bereut. Nur weil das Mädchen aussah wie die Unschuld selbst, hieß das nicht, dass sie es auch war.
»Was … was wollen Sie damit sagen?« Alle Farbe wich aus Maries Gesicht.
»Ich kenne dich kaum, Marie. Woher soll ich wissen, dass …« Es fiel ihr schwer, ihren Verdacht auszusprechen, doch Marie verstand auch so, was sie befürchtete. Sie sprang von der Liege auf und stolperte ein paar Schritte nach hinten.
»Wollen Sie damit sagen, dass ich den Mörder meines Vaters decke? Ist es das?«
Madeleine straffte die Schultern. Es war eine schreckliche, dennoch einleuchtende Möglichkeit. Maries Freund Oliver hatte als Lehrling des Goldschmieds stets gewusst, an wen Kardos seine Schmuckstücke verkaufte. Möglicherweise reichte es ihm und seiner Freundin irgendwann nicht mehr, die verkauften Stücke in ihren Besitz zu bringen, und sie wollten Kardos’ ganzen Reichtum an sich reißen.
»Ich weiß rein gar nichts über dich, über deinen Vater und deinen Freund Oliver. Ich kenne euer Verhältnis und eure Probleme nicht.«
»Soll ich Ihnen etwas zeigen?« Marie zögerte einen Augenblick, dann hob sie ihr Nachthemd und entblößte zwei stilisierte Buchstaben, die an beiden Seiten ihre Leiste zierten. Sie tippte mit dem Finger auf ihre linke Seite.
»Hier, das O, das steht für Oliver und hier rechts, das R, für wen steht das wohl? Es
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