Die Muse des Mörders (German Edition)
keine Angehörige war, würde sie ungestört mit Oliver Brunner reden können. Der Besuchsraum, in dem sie auf ihn wartete, war durch eine Glasscheibe zweigeteilt. Auf beiden Seiten der Scheibe befanden sich schmale Tische und eine Reihe von Stühlen, an mehreren Halterungen hingen Telefonhörer. Es gab weder Kameras noch Mikrofone.
Madeleine nahm auf einem der Stühle Platz, sodass sie die Tür im Blick und das einzige Fenster im Rücken hatte. Sie wusste nicht, ob dieser Platz strategisch klug war. Sie wusste nicht, ob es in der Situation, die sie erwartete, überhaupt einen strategisch klugen Platz gab. Um sechzehn Uhr sollte ihr Gespräch mit Brunner stattfinden, doch als sie schließlich Schritte hörte, war es bereits viertel nach. Hinhaltetechniken dienten der Zermürbung eines Gefangenen, das hatte sie einmal in einem Krimi gelesen.
Während die Schritte näherkamen, fingerte sie unruhig am Henkel ihrer Tasche herum und betrachtete die zerkratzte Tischplatte. Jemand hatte auf beiden Seiten eine Plastikflasche mit Wasser und einen Pappbecher platziert. Gemurmelte Worte auf dem Flur, dann wurde die Tür geöffnet und sie blickte auf. Zwei Polizisten, von denen einer ihr alter Bekannter Dominik Greve war, führten Oliver Brunner herein. Er trug seine eigene Kleidung. Jeans, T-Shirt und Turnschuhe. Greve warf Madeleine einen wenig freundlichen Blick zu, dann zog er Olivers Stuhl zurück und dieser nahm Platz.
»Viel Spaß dann«, sagte der Chefinspektor und verließ mit dem anderen Polizisten den Raum. Die Tür wurde geschlossen, aber nicht abgeschlossen. Im Vorfeld hatte Greve Madeleine gesagt, sie könne einfach den Raum verlassen, wenn ihr etwas komisch vorkäme.
Brunner starrte den Tisch an. Für einen Moment, es mochte auch eine Minute sein, herrschte Schweigen, dann fasste Madeleine sich ein Herz.
»Sie wollten mit mir sprechen?«
»Sieht so aus.« Ein kaum hörbares Flüstern. »Tut mir leid, wenn ich Ihnen Unannehmlichkeiten bereite.«
»Ihre unkonventionelle Art, mir Briefe zu schreiben, fand ich unangenehmer.«
Oliver Brunner hob den Kopf und Madeleine erschrak. Seine linke Wange war dunkelblau und geschwollen, das Auge blutunterlaufen. Seine Lippe und eine seiner Augenbrauen waren aufgeplatzt und dunkel verkrustet.
»Ist das bei Ihrer Verhaftung passiert?«
»Das tut nichts zur Sache.«
Trotz der Entstellungen sah er freundlich aus. Nicht wie ein Mörder. Sie wusste, dass diese Gedanken purer Unsinn waren. Nicht jedem Verbrecher war die Boshaftigkeit ins Gesicht geschrieben. Vielleicht sogar den wenigsten.
»Sie erkennen mich wirklich nicht, oder?« Brunner klang sonderbar verletzt, was sie nicht weniger erstaunte als seine Worte selbst.
Sie schüttelte den Kopf.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
»Ist Ihnen denn mein Name nicht aufgefallen?«
Seine rätselhafte Ausdrucksweise machte ihre Verwirrung komplett.
»Sagen Sie doch einfach, was…« Sie verstummte.
Er sah sie immer noch durchdringend an und sie spürte, wie sich dem Puzzle in ihrem Kopf ein entscheidendes Stück hinzufügte. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag und sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Oliver.« Nun war sie es, die flüsterte.
Oliver nickte und als sie ihn betrachtete, konnte sie kaum glauben, wie blind sie gewesen war. Jetzt da sie wusste, wer er war, konnte sie seine Ähnlichkeit zu seiner Mutter nicht mehr verleugnen. Wie lange hatte sie nicht mehr über Anne nachgedacht, ihre Ziehtochter, die sie nach dem frühen Tod einer mit Georg bekannten Schauspielerin bei sich aufgenommen hatte.
Anne war damals vierzehn gewesen und hatte bis zu ihrem zwanzigsten Lebensjahr in Madeleines Haus gelebt. Ihr Verhältnis war nicht wie das zwischen Mutter und Tochter gewesen, aber herzlich und freundschaftlich. Mit zweiundzwanzig war Anne schwanger geworden und hatte einen Sohn geboren. Diesen Jungen hatte Madeleine vom ersten Tag an vergöttert, er war ein aufgewecktes und freundliches Kind gewesen und sie hatte ihn verhätschelt wie einen Enkel. Später war Anne mit ihrem Freund, Theo Brunner, nach Genf gegangen und der Kontakt war immer sporadischer geworden. Seit weit mehr als zehn Jahren hatte sie nichts mehr von Anne gehört und genauso wenig von dem kleinen Oliver. Bis heute. Sie zog ein Taschentuch hervor, um ihre feuchten Augen abzutupfen.
»Ich dachte, du lebst in Genf.«
»Lebte ich auch, bis meine Eltern gestorben sind.«
»Anne ist …?«
Er nickte.
»Krebs.«
»Sie
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