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Die Muse des Mörders (German Edition)

Die Muse des Mörders (German Edition)

Titel: Die Muse des Mörders (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Wedler , Nadine d'Arachart
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vielfältigen Population der Erde produzierte die größten Dramen. Normalerweise halfen ihr einige dieser Dramen bei ihrer Arbeit, aber seit Paul gestorben war und sich die Ereignisse zusehends überschlugen, hatte sie kein einziges Wort zu Papier gebracht.
    Sie bückte sich und klaubte ein gelbliches Blatt von Pauls Grabstein. Sie war hergekommen, weil sie gehofft hatte, hier nachdenken zu können, doch der Zentralfriedhof wollte seine beruhigende Wirkung heute nicht entfalten. Sie spürte auch nichts von der so oft beschworenen Anwesenheit des Verstorbenen, die den Trauernden auf allen Friedhöfen der Welt angeblich half, ihr Leben zu meistern. Sie fühlte sich allein, nicht mehr und nicht weniger. Allein mit den erschütternden Ereignissen und mit der schweren Entscheidung, die ihr nun auch noch abverlangt wurde.
    Heute Morgen hatte das Telefon geklingelt und Nicolas Reinhardt war am Apparat gewesen. Voll freudiger Erregung hatte er ihr eröffnet, dass sie bei der Aufklärung der Dolchstoßmordserie mithelfen konnte. Sie war völlig perplex gewesen und als sie gehört hatte, dass Oliver Brunner mit ihr sprechen wollte und unter welchen Bedingungen, war ihr der Atem gestockt. Er wollte sie in einem nicht überwachten Raum unter vier Augen treffen. Dort wollte er ihr, und nur ihr, die ganze Wahrheit sagen. Sogar jetzt, gute drei Stunden nach dem Telefonat, fühlte sich Madeleine bei der Vorstellung noch unwohl. Warum wollte dieser Mann ausgerechnet ihr die Beichte ablegen? Reinhardt hatte ihre Besorgnis gespürt und ihr versichert, dass er dafür sorgen würde, dass Brunner sie nicht verletzen konnte. Sie hatte sich Bedenkzeit erbeten. Einerseits wollte sie nicht noch tiefer in die ganze Angelegenheit hineingezogen werden. Sie fühlte sich nicht wohl bei der Sache. Andererseits würde sie die Wahrheit über Marie und Oliver nie erfahren, wenn sie den Kopf in den Sand steckte.
    Eine Windböe wehte einen ganzen Stoß verfärbter Blätter auf Pauls Grab und sie machte sich erneut daran, sie aufzusammeln. Eine tiefe Ratlosigkeit hatte von ihr Besitz ergriffen und ein Teil von ihr wollte einfach Nein sagen, wollte Greves Rat endlich beherzigen und die Stadt verlassen. Ans Meer oder in die Berge fahren, Hauptsache weg von dieser ganzen traurigen Angelegenheit. 
    Doch hier an Pauls Grab, umgeben von Millionen Menschen, die nicht mehr die Chance hatten, irgendwelche Figuren auf dem Schachbrett des Lebens zu bewegen, wurde ihr eine wichtige Sache klar. Sie erinnerte sich daran, als sie mit Paul beim Arzt gewesen war, am Tag, als er die niederschmetternde Diagnose erhalten hatte. Sie hatte seine Hand gehalten, als der Doktor ihm eröffnet hatte, dass er mit Glück noch ein halbes Jahr leben würde. Die nüchternen Worte des Mediziners hatten ihr den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie hatte ihn, Gott und das ganze Universum verflucht, war gleichzeitig traurig und unsagbar wütend gewesen. Doch dann hatte sie in Pauls Augen geblickt und darin Hoffnung entdeckt. Einen schwachen Funken Hoffnung, doch ein schwacher Funke war immer noch besser als nichts. Diese Hoffnung hatte sie bis zuletzt in ihm gespürt, auf immer neue Ziele ausgerichtet. Eine weitere Woche, einen weiteren schmerzfreien Tag. Ein Paradies, das nach dem Tod auf ihn wartete. In dieser emotionalen Phase ihres Lebens hatte sie mit ihren dreiundsiebzig Jahren verstanden, was manchen früher, anderen nie klar wurde. Hoffnung war die einzige und unerschütterliche Antriebskraft allen Lebens. Sie beendete Kriege, rettete Leben und gab immer denen Recht, die am meisten hofften. Madeleine konnte Maries Verlust nicht ausgleichen, konnte ihr nicht die schrecklichen Erinnerungen an vorletzte Nacht nehmen. Sie konnte ihr nicht ihre Unbeschwertheit zurückgeben, aber indem sie sich bereiterklärte, Oliver Brunner anzuhören, konnte sie dem Mädchen Hoffnung geben. Mehr als diese Erkenntnis brauchte sie nicht, um ihre Entscheidung zu fällen. 
    »Danke, Paul.« Sie rang sich ein Lächeln ab und las ein letztes Blatt von seinem Grabstein auf. 
     
     

71.
    Am Dienstagnachmittag brannte die Sonne noch immer so erbarmungslos auf die Stadt, als wäre es Hochsommer. Die Menschen in Wien redeten über nichts als den Dolchstoßmörder und seine Verhaftung. Sie alle glaubten nur zu gern, dass die Gefahr endgültig gebannt war. 
    Was Madeleine glaubte, würde sich innerhalb der nächsten Stunden entscheiden. Sie fuhr zur Justizanstalt Josefstadt im achten Bezirk. Weil sie

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