Die Muse des Mörders (German Edition)
gibt keine Tochter in ganz Wien, die ihrem Vater so nahesteht wie ich meinem und …« Sie brach ab und schüttelte heftig den Kopf, das Nachthemd glitt wieder über ihre Schenkel.
Madeleine stand immer noch unbewegt da. Die Auftritte von Maries Freund in ihrem Haus und bei der Lesung sprachen für sich, doch das Häufchen Elend, das Marie im Moment war, ebenfalls. Sie wusste nicht, was sie denken oder glauben sollte. Sie wusste nicht, ob sie Marie immer noch helfen konnte oder wollte. Zum ersten Mal seit langer Zeit fühlte sie sich überfordert. Als sie immer noch schwieg, machte das Mädchen ein paar Schritte auf sie zu.
»Bitte, bitte, ich habe doch niemanden. Sie dürfen mich nicht im Stich lassen.«
Madeleine trat einen Schritt zurück, was für Marie Antwort genug war. Kraftlos sank sie auf die Knie, wobei ihre langen, blutig blonden Strähnen beinahe den Boden berührten. Madeleine musste schlucken. Mitleid und Misstrauen kämpften in ihrem Inneren gegeneinander an. Im nächsten Moment geschah etwas Unerwartetes, das die Anteilnahme siegen ließ.
»Ich bin schwanger«, flüsterte Marie, dann fiel sie endgültig zu Boden und weinte hemmungslos.
69.
Dominik hatte nicht viel Zeit gehabt, seinen Rausch auszuschlafen. Gleich nachdem er sich hingelegt hatte, läutete sein Handy und Reinhardt zitierte ihn in sein Büro. Dominik duschte, putzte sich gründlich die Zähne, zog sich frische Sachen an und brach auf. Reinhardts Laune, die in der letzten Zeit nicht die beste gewesen war, war umgeschlagen und hatte einer triumphierenden, spöttischen Heiterkeit Platz gemacht.
»Raten Sie, wen ich zum Reden gebracht habe, Greve.«
Dominik setzte sich und konnte nur ahnungslos den Kopf schütteln. Er fühlte sich nicht gut und hatte keine Lust auf Ratespielchen.
»Na, den Jungen. Diesen Brunner.«
Dominik sah entsetzt auf. Wie zur Hölle hatte Reinhardt das gemacht?
»Sie haben … haben …?« Er schüttelte die Benommenheit ab. »Was hat er gesagt?«
»Nun ja, sagen wir, er hat noch nicht direkt gesprochen«, sagte Reinhardt, »aber er wird.«
»Wie meinen Sie das?« Erleichterung machte sich in Dominik breit und er hob den Blick, um seinen Chef anzusehen.
»Der kleine Dreckskerl will eine Aussage machen.« Reinhardt lachte. »Nun machen Sie nicht so ein Gesicht. Einer musste die Sache doch in die Hand nehmen.«
Dominik verstand immer noch nicht. Lag das an seinem verkaterten Kopf oder redete Reinhardt wirres Zeug?
»Brunner will diese Alte sehen. Diese Scuderi. Der will er dann alles erzählen.«
»Will er das?«
»Ein bisschen mehr Begeisterung hätte ich schon erwartet, Greve.« Reinhardt suhlte sich in seinem Triumph.
»Wann wird das Treffen zwischen Brunner und der Scuderi stattfinden?« Dominiks Gedanken rasten. »Ich möchte dabei sein, wenn …«
Reinhardt schüttelte den Kopf.
»Das ist die einzige Bedingung. Der Junge sagt nur aus, wenn er mit der Alten ungestört sein darf.«
»Das wollen Sie ihm durchgehen lassen?«
»Ja. Ich halte die Scuderi für vertrauenswürdig. Sie wird uns alles erzählen, was er ihr beichtet.«
»Damit kommen Sie vor Gericht doch niemals durch.« Dominiks vom Whisky heisere Stimme überschlug sich.
»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Greve, vergessen Sie das Gesetz. Mit einem eiskalten Killer hat niemand Mitleid. Wenn er gesteht, drehen wir das Ganze schon so, dass er hinter Gitter kommt. Für immer.«
Dominik war sprachlos. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, dann kam ihm eine Idee.
»Kann ich zu ihm? Jetzt?«
Reinhardt lachte.
»Sie wollen es noch einmal selbst versuchen? Bitte, nur zu, aber schonen Sie diesmal Ihre Hände.« Er wies auf Dominiks verkrustete Fingerknöchel. »Vor der Presse sieht das nicht sonderlich gut aus, Sie wissen schon.«
Dominik nickte, obwohl er genau das nicht vorhatte: seine Hände zu schonen.
70.
Als sie das frische Grab erreichte, war sie immer noch aufgewühlt. Die Blumen waren noch nicht verwelkt und auch die Sprüche auf den Kränzen waren noch gut lesbar. Sie fragte sich, ob Paul dort unter der Erde noch wie ihr Paul aussah oder ob die Bakterien, die seinem Körper früher geholfen hatten, zu funktionieren, ihn schon bis zur Unkenntlichkeit zersetzt hatten. Madeleine hatte einmal gelesen, dass mehr als siebzig Prozent aller Lebewesen Bakterien waren. Zog man alle anderen Geschöpfe ab, blieb nicht einmal ein Prozent für die Menschheit über, doch dieser winzige Anteil an der
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