Die Muse des Mörders (German Edition)
er sah nicht fern. Wann immer er konnte, war er in seinem Atelier und arbeitete an seinen Kunstwerken.
Manchmal stellte er wunderschöne Stücke her, mit denen er tagelang beschäftigt war. Doch dann wurde er wütend, schmolz alles wieder ein und begann von Neuem. Seine Arbeitswut war unglaublich. Das war aber nur der Teil von ihm, den ich zuerst kennen lernen durfte, sein Genie.
In einer Nacht in diesem Frühjahr machte ich erstmals Bekanntschaft mit seinem Wahn. Ich hatte mich in dieser Nacht zum ersten Mal in Maries Zimmer geschlichen und als ich danach wieder in meinem eigenen Bett lag, konnte ich vor lauter Glück nicht schlafen. Ich hörte seine dumpfen Hammerschläge aus der Werkstatt und glaubte, dass ich es vielleicht einmal wagen könnte. Einfach nachfragen, ob es für mich auch etwas zu tun gab.
Ich zog mir etwas über und ging hinunter zum Atelier. Die Tür stand einen Spalt weit offen und mir fiel auf, dass kein Licht brannte. Wie konnte er ohne Licht arbeiten? Ich verfluche mich heute noch dafür, dass ich mich nicht einfach umdrehte und ging. Solche Momente gibt es nicht oft im Leben, an denen man an einer Weggabelung steht und sich nur komplett richtig oder komplett falsch entscheiden kann.
Ich entschied mich komplett falsch. Ich ging zur Tür und schaute vorsichtig hinein. Zuerst sah ich in der finsteren Werkstatt gar nichts, doch dann entdeckte ich ihn. Er saß auf dem Boden mit dem Rücken an der Wand und schlug, vielleicht ohne es zu merken, immer wieder mit dem Kopf dagegen. Ich erschrak. Er blickte genau in meine Richtung. Eigentlich hätte er mich sehen müssen, aber er nahm mich nicht wahr. Er sah erbärmlich aus. Seine Augen waren rot wie bei einem Säufer und die Haare klebten ihm in der Stirn. Ich wollte ihm schon zur Hilfe eilen, weil ich dachte, dass er sich vielleicht überarbeitet hatte und einen Schlaganfall oder Herzinfarkt erlitt. Da hörte ich ihn leise mit jemandem reden.
»Sie ist nicht aus Gold oder aus Silber. Sie ist aus Fleisch und Blut. Das muss dir doch auch klar sein.«
Vor Schreck prallte ich zurück. Für einen Moment war ich mir sicher, dass er mit mir sprach. Ich legte mir Ausreden zurecht, irgendetwas, womit ich erklären konnte, dass ich nachts seine Privatsphäre störte. Da merkte ich, dass er weitersprach, obwohl ich nicht mehr in der Tür stand.
»Wir können sie nicht behalten. Wir können sie … nicht … behalten!«
Ich hörte ein Geräusch aus der Werkstatt und rannte zurück ins Haus. Ich lag noch stundenlang wach und war viel zu aufgeregt, um schlafen zu können. Seine Worte gingen mir nicht aus dem Kopf. »Sie ist nicht aus Gold oder aus Silber. Wir können sie nicht behalten.«
Obwohl mir bei der Vorstellung schlecht wurde, glaubte ich zu verstehen, wovon er sprach. Es ging um Marie. Es war offensichtlich. Er war krankhaft besessen von den Dingen, die er schuf, und Marie gehörte dazu. Als Vater vergötterte er sie. Als Künstler wollte er sie besitzen. Wahrscheinlich hatte er uns in dieser Nacht gehört und drehte deshalb durch.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Mit ihm darüber sprechen? Ihn fragen, ob er mich in seiner Werkstatt bemerkt hatte? Irgendwann schlief ich ein und am nächsten Tag nahm er mir die Entscheidung ab. Er verhielt sich, als sei nichts gewesen, und es fiel mir schwer, mir ebenfalls nichts anmerken zu lassen. Ich konnte ihm kaum in die Augen sehen und rechnete jeden Augenblick damit, dass er mich fragen würde, was mit mir nicht stimmte. Doch nichts geschah.
An diesem Tag lernte ich eine wichtige Lektion über René Kardos. Es war ihm absolut egal, wie es den Leuten in seiner Umgebung ging. Er hatte kein Interesse daran und keine Augen dafür. Er nahm es nicht wahr. Mehr und mehr wirkte er wie eine Maschine auf mich, die lief und lief und geradewegs auf einen Unfall zusteuerte.
Je enger die Beziehung von Marie und mir wurde, desto tiefer vergrub er sich in seine Arbeit. Obwohl ich mir fast sicher war, dass er über uns Bescheid wusste, machte er nie irgendeine Bemerkung. Er lobte mich, wenn meine Arbeit gut war und wenn sie schlecht war, zeigte er mir, wie ich es besser machen konnte. Ich erzählte Marie von meiner Vermutung, dass er von unserer Beziehung wusste und sie akzeptierte.
Wir wurden unvorsichtiger. An einem Abend vor drei Wochen sahen wir gemeinsam im Wohnzimmer fern. René war wie immer in der Werkstatt und wir machten noch Scherze, dass er sich da vielleicht mit seiner heimlichen
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