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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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ambulanten Patienten genutzt wurde, saß eine blutjunge Frau hinter einem überladenen Schreibtisch. Ihr weißer Kittel ließ nicht erkennen, ob sie Ärztin oder Krankenschwester war. Sie war mit Papierkram beschäftigt, schaute kurzauf, als ich eintrat, zeigte auf eine Reihe einfacher Plastikstühle und sagte: «Nehmen Sie Platz, ich bin gleich so weit.»
    Eine Sekunde lang musste ich daran denken, dass auch Jürgen so angefangen und auf Abruf bereitgestanden hatte. Ich setzte zu einer langatmigen Erklärung an, wollte mich auf keinen Fall unverrichteter Dinge wegschicken lassen. Ich musste Vater sehen.
    Kaum hatte ich seinen Namen ausgesprochen und erwähnt, dass ich es leider nicht geschafft hätte, früher zu kommen, drückte sie mit einem gleichgültigen «Ach so» einen Knopf seitlich am Schreibtisch. Der elektrische Türöffner summte. Die Hürde war genommen. Ich hatte mich nicht einmal anstrengen müssen.
    Ich stand in einem langen Korridor, ging zum Aufzug und ließ mich hinauf in den zweiten Stock tragen. Noch ein langer Flur, geschlossene Zimmertüren. Ich ging langsam und mit einem schlechten Gewissen. Reiß dich zusammen, Vera. Gönn deinen Eltern eine friedliche Nacht. Wenn du jetzt zu deinem Vater flüchtest wie eine Vierjährige, um ihm zu erzählen, was heute passiert ist, bist du genau das, was alle von dir denken: nicht bei Verstand.
    Das war ich auch nicht. Ich war noch bei Klinkhammer und den Bildern von einem grauen Kleinbus, in dem nicht zwei Jugendliche saßen, sondern ein eiskaltes Mörderpärchen. Nach dem Mord hatten sie zwei Möglichkeiten gehabt. Sie konnten die Leiche mitnehmen und irgendwo unterwegs loswerden oder sie in einem der offenen Schächte verschwinden lassen. Die Schächte waren überprüft; mir war das ‹irgendwo unterwegs› geblieben.
    Der Flur war wie ein T geschnitten. Links auf dem langen Stück die Zimmernummern 201 bis 207 für Kassenpatienten. Auf der rechten Seite die diversen Nebenräume: Teeküche, Badezimmer, das Zimmer der Stationsschwester.
    Vater war privat versichert, sein Zimmer hatte die Nummer 208 und war das erste hinter der Flurbiegung. Ich wünschte mir, dass die Nachtschwester mich aufhielt und verhinderte, dass ich als heulendes Bündel Elend neben seinem Bett zusammenbrach.
    Hilf mir, Papa. Sag mir noch einmal: Es war ein junger Mann am Telefon. Sag mir, du bist völlig sicher, dass es ein Mann war, der diesen ungeheuerlichen Satz aussprach. Menke kann es nicht gewesen sein. Und wenn Nita es auch nicht gewesen sein kann, kann ich Klinkhammer ins Gesicht lachen. Hilf mir, Papa!
    Ich ging wie auf Eiern, jeden Moment konnte es unter mir knirschen. Jeden Moment konnte es vorbei sein mit der Beherrschung, die genau genommen nur Kälte war. Irgendwo unterwegs! In einem Waldstück am Rand der Autobahn. In einem Gebüsch an einem Rastplatz. In irgendeinem Wasserloch. Es gab viele Möglichkeiten.
    Am Stationszimmer stand die Tür offen. Ich wusste nicht, ob ich mich unsichtbar machen oder wie ein Elefant vorbeitrampeln sollte. Ich musste nicht trampeln. Die Nachtschwester saß mit Papieren am Schreibtisch und schaute auf, als ich vorbeiging. Im selben Moment war sie auch schon auf den Beinen. Ihre Stimme war gedämpft. Sie kannte mich nicht. «Wollen Sie zu Kuhlmann? Das ist Zimmer 205.»
    «Nein», sagte ich und versuchte zum ersten Mal Jürgens Titel als Schlüssel zu benutzen. Es war ein halbherziger Versuch, er pendelte zwischen einer hilflosen Vierjährigen und einer Erwachsenen. «Ich bin Dr.   Zardiss und will zu meinem Vater, Dolf Merten, er liegt auf Zimmer 208.   Ich hatte versprochen, noch kurz vorbeizuschauen. Leider habe ich es nicht früher geschafft.»
    Wenn ich vielleicht etwas lauter und energischer gesprochen hätte, das Flüstern nahm dem Doktor jedes Gewicht. Andererseits – ich glaube, auch ein Professor hätte keinen Eindruck auf sie gemacht. Sie war eine kleine, hellwache Person mit Röntgenaugen, musterte mich von Kopf bis Fuß. «Dann verschieben Sie es auf morgen. Keine Besuche nach zwanzig Uhr.»
    «Aber es ist wichtig», beharrte ich. «Und wenn Kuhlmann jetzt noch Besuch haben darf   …»
    Sie unterbrach mich mit einem Lächeln. «Der eine Patientbraucht die Zuwendung seiner Familie, der andere braucht Schlaf. Ihr Vater gehört glücklicherweise in die letzte Kategorie.»
    «Kann ich wenigstens kurz reinschauen? Bitte, ich werde ihn nicht aufwecken. Ich will nur sehen, dass es ihm gut geht.»
    Sie zögerte. Nachgeben war

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