Die Mutter
auf der Strecke Köln – Hamburg. Das war eine Fahrt von viereinhalb Stunden.
Ich wollte ihm widersprechen, aber es machte zu viel Mühe, die Zunge zu bewegen. Sie war wie ein Schwamm, voll gesogen mit Angst, ruhig gestellt vom schwersten Geschütz in Jürgens Arsenal. In meinem Fuß schlugen ein Dutzend Zwerge mit Hämmerchen auf das rohe Fleisch ein. Mir ging allerlei krauses Zeug durch den Sinn.
Ich hatte nicht gewusst, dass Eva Kettler Kraftsport betrieb. Ich konnte es mir auch nicht vorstellen, sie war nicht muskulös. Im Gegenteil, Jürgen hatte einmal zu ihr gesagt, sie solle etwas für ihren Bauch tun, ein bisschen Gymnastik könne gewiss nicht schaden. Aber wenn es so war, wie er sagte, wenn sie ihm die Schuld an ihrer Fehlgeburt gab, vielleicht hatte Klinkhammer Recht.
Auge um Auge, Kind um Kind. Jetzt zahlst du, Doktor. Und dem kleinen Frauchen bringe ich bei, wie das ist, ein Kind zu verlieren. Und Jürgen führte uns alle an der Nase herum, wollte nicht, dass die Polizei sich einschaltete, wollte Renas Leben nicht aufs Spiel setzen. Er bildete sich ein, wir könnten das Lösegeld aufbringen. Er bildete sich immer ein, wir könnten zahlen.
Der graue Kleinbus war der Kern, um den sich der rote Nebel drehte. Eine Beule und zwei Kratzer im Lack, nicht der Rede wert. Man müsste den Tierarzt fragen, ob der Fahrer langhaarig gewesen war. Für Männer mit kurzen Haaren sind Beulen und Kratzer im Autolack eine Katastrophe. Nur ein Hippie regt sich nicht darüber auf. Aber Hippies waren aus der Mode gekommen. Blümchen auf Autotüren, die Gitarre auf dem Rücksitz, lange Haare und zotteliger Verstand, das war meine Zeit gewesen.
If you’re going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair. Und die Stones mit ihrem verbotenen Song.
Ich hatte mir die Platte gekauft. Sechzehn war ich, so alt wie Rena. Zum Geburtstag hatte ich einen Plattenspieler bekommen, kein Pferd, ich wollte auch keins. Ich liebte Musik. Nicht Wagner, der war mir zu laut. Pop, Beat, sanfte Melodien, das mochte ich, und ab und zu ein bisschen Rock. Mick Jagger!
Mutter verstand kein Englisch. Sie fand die Musik zu wild und fragte mich, was Mick Jagger singt. Ich übersetzte ihr den Text. Es war doch nichts dabei. Es war nur ein Lied. Mutter fand es obszön. «Mir so eine Schweinerei ins Haus zu bringen! Wenn dein Vater das hört! Schämst du dich nicht, Vera?»
Doch! Ich habe mich immer geschämt. In der Schule. Wenn ich gefragt wurde, wie mein Vater heißt. Dolf Merten. Tatsächlich war sein Name ein bisschen länger. Aber den ersten Buchstaben durfte man nicht aussprechen. Er stand nur in sämtlichen Unterlagen.
A! Das war der Geschichtsunterricht in der sechsten Klasse. Das waren sechs Millionen. Es war das Synonym für ein Schlachtfest. Ich konnte nicht glauben, was der Lehrer sagte. Der Lehrer war ein alter Mann und behauptete, er habe mit eigenen Augen gesehen, wie Menschen in einer Kirche zusammengetrieben wurden und wie die Kirche in Flammen aufging. Er habe die Schreie noch im Ohr. Dann zeigte er uns Bilder – Gerippe im Dreck mit ein bisschen Haut darum, welk und runzlig wie die Haut an Gretchens Schenkeln. Ausgemergelt, übereinander geworfen, zusammengestopft in ein Grab wie Müll in einen Sack.
Ich kam weinend aus der Schule nach Hause. Mutter wollte wissen, was geschehen war. Ich erzählte es ihr. Und Mutter nickte. «Ja», sagte sie, «unsere Nachbarn damals wurden auch abgeholt. Es waren nette Leute, sie hatten keinem etwas getan. Wir haben sie nie wieder gesehen. Wahrscheinlich sind sie alle umgekommen.»
«Wie können Menschen so etwas tun?»
Mutter lächelte. «Das musst du nicht mich fragen, Vera. Frag deinen Vater. Er war dabei. In Warschau, als das Ghetto geräumt wurde. Dein Vater ist einer von diesen Mördern. Er war ein Nazi.»
Ich habe nie verstanden, wie sie das sagen und dabei lächeln konnte. Mein Vater! Ein Mörder?
Nein, er war nur ein Feigling. Nicht zu feige, alte Männer, Frauen und Kinder zum Abtransport zu treiben. Befehl von oben. Man konnte sich nicht widersetzen, sagte er einmal. Wer das Maul aufriss, kam vors Kriegsgericht oder wurde einfach an die Wand gestellt und auf der Stelle erschossen.
Ich war achtzehn, als er zu mir sagte: «Ich war so alt wie du, Vera, als ich die Uniform anzog. Und ich habe anfangs geglaubt, was sie sagten, dass sie nur das Beste für uns wollten. Wir haben nicht begriffen, worauf es hinauslief. Wie soll ein Jugendlicher, der nachts vor
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