Die Mutter
im Rücken auf die Autobahn.
Es ist der Verstand, er bricht allmählich auseinander. Es kommt ein Punkt, da denkt man nur noch mit Scherben. Beim einen kommt er früh, beim anderen etwas später. Bei mir kam er sehr früh. Ich spürte es nicht. Grub Löcher, schleppte Bretter, stand auf Socken im Schlamm, wischte mir den Schweiß von der Stirn und die Tränen von der Nasenspitze und hielt mich für normal. Für den einzig vernünftigen Menschen unter lauter geistig Beschränkten.
Ich sprach mit meinem Auto. «Gutes, altes Knatterding, jetzt machen wir dich wieder flott, und dann bringen wir System in die Sache.» Vier Räder, ein bisschen Blech drum herum, Benzin im Tank. Und schon fühlt man sich wie ein Mensch, der etwas tun, der Verlorenes wieder finden kann.
Ich wollte viel tun, noch einmal zu Hennessen, mir eine Mistgabel aus seinen Gerätschaften greifen, ihn an die Wand spießen. «Was hast du mit ihr gemacht? Wo ist sie? Sag es mir, oder ich steche dich ab.»
Nur bekam ich die Reifen nicht frei, auch nicht mit den Brettern. Ein Traktor kam. Einer der Männer hatte mich gesehen und half mir. Ich hatte ein Abschleppseil im Wagen, damit ging es schnell. Das Geräusch werde ich nie im Leben vergessen, diesesSchmatzen, Saugen und Schlürfen, als der Schlamm die Reifen freigab.
Ich stieg ein, der Mann mit dem Traktor zog den Fiesta bis in unsere Einfahrt. Ich bedankte mich, wollte losfahren, hinunter zur Landstraße, links abbiegen zum Dorf. Aber als ich sah, dass der Traktor diese Richtung einschlug, dass er nicht zurückfuhr, dass auch die anderen sich auf den Heimweg machten, war es schon wieder vorbei.
Meine Füße tauten auf und schmerzten höllisch. Ich fuhr den Wagen in die Scheune und ging ins Haus. Vater saß im Wohnzimmer, der Fernseher lief, der Ton war wie immer zu laut eingestellt. Mutter wieselte zwischen Küche und Esszimmer hin und her. Jürgen war oben und duschte. Anne telefonierte in ihrem Zimmer mit Patrick. Renas Tagebücher waren mit Olgert verschwunden.
Mutter forderte mich auf, mir die Hände zu waschen. Sie warf keinen Blick auf meine Füße, sonst hätte sie sie bestimmt in ihre Forderung eingeschlossen. «Das Essen ist fertig.» Ein paar Minuten später rief sie zum Wohnzimmer hinüber: «Kommst du bitte zu Tisch, Dolf.»
Jürgen und Anne kamen die Treppe hinunter. Sie unterhielten sich, wie sie sich hundertmal vorher unterhalten hatten. Als müsse jeden Augenblick die Haustür aufgestoßen werden und Rena in die Diele stürmen. «Ich spring schnell unter die Dusche. Nur keine Aufregung, Leute, ich bin in zwei Minuten fertig.»
Es gab Salzkartoffeln, Würstchen und grünen Salat, weil es zu Mittag nur Wurstbrote gegeben hatte. Sechs Paar Würstchen! Es war wie eine Hand zur Versöhnung gereicht. «Siehst du, Vera, ich habe gehofft, sie wäre zum Essen wieder bei uns.» Nur Vater konnte mir nicht ins Gesicht sehen. Er zerdrückte mit pedantischer Sorgfalt die Kartoffeln auf seinem Teller, vermischte sie mit Butter. Jürgen schielte das letzte Würstchenpaar an. Und dann griff er danach.
«Lass es liegen», sagte ich.
Er schüttelte den Kopf. «Vera!»
Wie ich diesen Ton hasste, diesen gönnerhaft verständnislosen und sanft tadelnden Ton. Und seine Ruhe, seine Überlegenheit. Ein Mann, der sich von nichts aus der Fassung bringen lässt. Der am Bett einer Sterbenden noch dünne Witzchen reißen kann. Na, Frau Sowieso, stirbt es sich nicht angenehmer, wenn man dabei lächelt? Ich fühlte etwas in mir aufsteigen, nur fühlte ich nicht, ob es heiß oder kalt, nass oder trocken war.
Jürgen ignorierte die Würstchen, als ich zu weinen begann. «Ist ja gut», murmelte er und schob seinen Stuhl zurück. Er griff unter meine Achseln, zog mich hoch, nahm mich in die Arme, wiederholte: «Ist ja gut.»
Nichts war gut.
«Ich will mein Kind wiederhaben.»
«Du brauchst ein bisschen Ruhe», sagte Jürgen.
«Ich will keine Ruhe, ich will mein Kind.»
«Sie kommt zurück», sagte Jürgen. «In ein paar Tagen ist sie wieder hier.»
«Ist sie nicht. Hennessen hat sie umgebracht.»
«Nein, Vera», sagte er, «niemand hat sie umgebracht. Sie haben ihr Fahrrad am Bahnhof gefunden. Ich wollte es dir heute Mittag schon sagen. Ich hab’s vergessen in der Aufregung. Sie ist wahrscheinlich mit dem letzten Zug nach Köln. Um halb elf fuhr noch einer. Das konnte sie schaffen, wenn sie um zehn bei Hennessen weg ist.»
Theoretisch vielleicht – mit dem Wind im Rücken. Aber praktisch waren da das
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