Die Mutter
gehst du ans Telefon. Mit dir spricht sie bestimmt.»
«Sie kann nicht mehr mit mir sprechen.»
Er legte eine gehörige Portion Nachdruck in die Stimme. «Vera, jetzt reicht’s! Warum willst du nicht einsehen, dass Rena aus freien Stücken weggelaufen ist?»
«Weil sie keinen Grund hatte.»
«Ach komm.» Er verdrehte die Augen. «Du siehst keinen Grund, weil du dir nicht vorstellen kannst, einem Gaul hinterherzurennen. Dann frag dich mal, was du tun würdest, wenn ich aus deinem Leben verschwinde.»
«Winken», sagte ich.
Er stutzte, pfiff leise durch die Zähne. «Vielen Dank, das war ein offenes Wort. Hast du noch mehr davon auf Lager?»
Noch ein rundes Dutzend, aber ich wollte nicht gemein werden. Das hatte er nicht verdient nach der Schlammschlacht am Freitag und der Pillenorgie danach. Er gab sich Mühe, das war nicht zu leugnen. Dass seine Bemühungen nicht ausreichten, war nicht seine Schuld.
Jeder Mensch hat ein gewisses Potenzial an Gaben zur Verfügung. Aber man hat immer nur das, was einem mit auf den Weg gegeben wurde. Was hätte Gretchen ihm mitgeben können? Die Freiheit, Löcher in den Bahndamm zu graben. Und nach Gretchen waren die Professoren gekommen mit ihren Patentrezepten. Wenn Jürgen eines von ihnen gelernt hatte, dann das: Es gibt für jedes private Problem eine Lösung. Man muss nur aufmerksam die Beipackzettel lesen.
Er war ein guter Arzt. Das war er wirklich. Für seine Patientinnen hatte er Zeit, unendliche Geduld und immer die richtigen Worte. Und die einzigen Rezepte, die er ohne zu zögern ausstellte, waren die für Verhütungsmittel. Aber daheim … Wer den ganzen Tag Schrauben zählt, mag abends keine Schrauben mehr sehen. So einfach ist das. Wer von morgens bis abends hört: Mir ist seit ein paar Tagen so übel, oder: Ich fühle mich seit Wochen so abgespannt, oder: Diese Kopfschmerzen machen mich verrückt, der sagt nach Feierabend: «Hast du Kopfschmerzen, Vera? Quäl dich nicht damit, nimm eine Pille.»
Nur Rena hatte er keine geben wollen, als sie sich mit dieser fürchterlichen Akne quälte. Als sie in keinen Spiegel mehr schauen mochte. Als sie sich das Gesicht blutig quetschte, um der Menge Herr zu werden. Einmal war ich dazugekommen, als sie ihre Stirn bearbeitete. Ihre Fingernägel hatten bereits blutunterlaufene Kerben in die Haut gedrückt. Ihr liefen Tränen übers Gesicht. «Es geht nicht auf, das verdammte Ding.»
«Du sollst nicht drücken. Es entzündet sich nur noch mehr. Es gibt Narben. Ich rede heute Abend noch einmal mit Papa. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn ich ihn nicht überzeugen könnte.»
Es ging mit dem Teufel zu. Er sagte nein. «Vera, ich habe es dir schon einmal gesagt, das kommt überhaupt nicht in Frage.»
«Warum nicht? Anne hast du auch ein Rezept gegeben.»
«Das ist etwas anderes. Anne ist fünfzehn, sie hat einen regelmäßigenZyklus und einen Freund. Möchtest du mit vierzig Großmutter werden? Soll Anne sich mit einer Schwangerschaft ihre Zukunft ruinieren?»
Dass die Akne Renas Gegenwart ruinierte, sah er nicht. «Ein paar Pickel! Hatte ich auch in dem Alter. Das geht vorbei.»
«Fährst du heute früher in die Praxis?», fragte ich.
Er nickte. «Ich fahre zuerst zur Polizei. Wir müssen offiziell Vermisstenanzeige erstatten, sagte Klinkhammer. Anschließend bringe ich Anne zur Schule, rede ein paar Worte mit dem Rektor. Dann bin ich immer noch früh genug für die Kettler, dieses verrückte Huhn. Der werde ich erst mal erzählen, dass sie sich mit ihrem Blödsinn fast die Kripo auf den Hals geholt hätte. Das wird ihr für die Zukunft eine Lehre sein.»
«Woher hatte sie unsere Privatnummer?»
«Von Jasmin, nehme ich an. Der werd ich auch was erzählen. Das wollen wir gar nicht erst anfangen, dass sie jedes Mal, wenn eine quengelt, unsere Nummer rausrückt.»
«Du hast mir nie gesagt, dass die Kettler dir die Schuld an ihrer Fehlgeburt gibt.»
Er seufzte. «Warum hätte ich dich mit ihrem konfusen Gerede belasten sollen? Vergiss es. Was ist mit dir, möchtest du mitkommen oder hier bleiben?»
«Fährt Eva Kettler einen grauen Kleinbus?»
Er atmete tief durch. «Vera, bitte! Sie hat kein Auto. Willst du nun mitkommen oder hier bleiben?»
«Ich möchte hier bleiben, wenn du allein zurechtkommst.»
«Mach dir darüber keine Gedanken, Sandra kann mir zur Hand gehen. Vielleicht kann sie ihren Kleinen heute Nachmittag für ein paar Stunden in der Nachbarschaft unterbringen. Und wenn nicht, ist immer noch
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