Die Mutter
fragt: «Darf ich kurz meine Eltern anrufen, damit sie mich abholen?»
Und irgendeiner, der vor dem Tresen steht, fragt: «Wo musst du denn hin? Ich kann dich mitnehmen.»
Als ich das Schlafzimmer meiner Eltern verließ, stand Mutter in der Diele. Sie wirkte zufrieden. Ich ging noch einmal ins Bad, wusch mir die Tränenspuren aus dem Gesicht und fragte mich, wo ich den zuverlässigen Mann finden sollte. Den Scheck legte ich in meinen Nachttisch, dann ging ich in Renas Zimmer. Das heißt, ich wollte, aber ich kam nur bis zur Tür. Ich schaffte es nicht, den Raum zu betreten, ging hinunter. Dann saß ich da.
Warten! Einen Tag vor sich haben wie den Ozean. Ihn ohne Hilfsmittel überwinden heißt ertrinken. Im Esszimmer lag ein Ruderboot. Ich wollte nicht rudern. Ich wollte mich auch nicht treiben lassen. Einen klaren Kopf behalten, das Loch im Innern mit Gedanken stopfen. Aber nicht unentwegt an Rena denken.
Um zwanzig nach neun klingelte das Telefon. Jürgen – nur ein Test, ob ich mich brav an die Spielregeln hielt, und die kurze Frage nach Vaters Befinden. Eine Viertelstunde später der zweite Anruf. Anne mit der umwerfenden Neuigkeit: Klinkhammer läuft im Gymnasium herum.
Mutter wollte wissen, ob mir Rosenkohl zu Mittag genehm sei. Es sei noch so viel vom Sonntagsbraten übrig, es habe ja gestern niemand so recht Appetit gehabt. Da brauche man nur ein wenig frisches Gemüse. Sie ging hinaus in den Garten, um die Ernte einzuholen.
Ein paar Mal war ich nahe daran, das Ruderboot zu besteigen. Die Wellen schlugen mir zu oft über dem Kopf zusammen und die Freitagspillen waren so übel nicht gewesen.
Warten! In einem Sessel sitzen hält man nicht lange aus. Es hebt die Untätigkeit hervor und man hat unentwegt das Gefühl, etwas tun zu müssen. Also läuft man. Von einem Fenster zum anderen. Zur Haustür und wieder zurück. Die Treppe hinauf und hinunter. Noch einmal zum Schlafzimmer meiner Eltern, die Tür einen Spalt geöffnet, das Herz auf der Zunge. Gib mir ein bisschen Halt, Papa. Lass uns zusammen noch ein wenig phantasieren über irgendeinen, der im Gasthof Schwinger vor dem Tresen stand.
Vater schlief. Ich zog die Tür zu und ging hinunter in die Diele. Mutter befreite in der Küche Rosenkohlröschen von den äußeren Blättern. Ich hypnotisierte das Telefon. Die dünne schwarze Leitung wurde zur Nabelschnur. Jetzt klingle schon, du Mistding! Wenn Jürgen Recht hat, wenn es Rena war am Freitagmorgen und in der Nacht … Lass mich ihre Stimme hören. Von mir aus darf es auch Jürgens Stimme sein. Oder Annes Stimme. Nur irgendeine Stimme. Die Stimme eines Menschen, mit dem ich reden kann. Mit Mutter konnte ich nie reden.
Wir unterhielten uns ständig, aber wir redeten nicht miteinander. Wir sprachen über den Speiseplan für die nächste Woche, über ein Reinigungsmittel für die Auslegware, darüber, dass der Metzgerim Dorf horrende Preise verlangte. Dass es günstiger und gesundheitlich völlig unbedenklich war, größere Mengen Fleisch im Supermarkt zu kaufen und auf Vorrat einzufrieren. Weil der Supermarkt über der Fleischtheke ein riesiges Plakat mit der Aufschrift «Unser Rindfleisch ist garantiert deutscher Herkunft!» angebracht hatte. Seit sie mir gesagt hatte, mein Vater wäre ein Nazi, hatte ich Angst, mit ihr über Dinge zu sprechen, die tiefer gingen. Seitdem bewegten wir uns nur noch an der Oberfläche.
Warten! Bis um elf! Da kam Klinkhammer, allein und ernst, mit unverändert zu langem Haar, das er ständig zurückschieben musste.
In den ersten Minuten war ich erleichtert, ihn zu sehen. Es war fast wie früher, als ich sechs oder sieben war. Als ich noch einen Helden hatte, der untadelig war, groß und stark, streng und gerecht. Wenn Vater am späten Nachmittag aus dem Gericht kam; ein bisschen Herzklopfen vor den ersten Fragen. Sind die Schularbeiten ordentlich erledigt? Zeig mir deine Hefte. Ein anerkennendes Nicken, dann durfte ich mit ihm ins Wohnzimmer gehen. «Magst du Musik mit mir hören?»
Ich mochte seine Musik nicht, aber ihn liebte ich abgöttisch. Bei ihm fühlte ich mich sicher und erwachsen. Vater war ein ernster Mann und er nahm mich ernst. Zuerst gab Klinkhammer mir das Gefühl, dass er mich so ernst nahm wie Vater damals.
Er stellte ein paar Fragen, nickte bedächtig zu den Antworten, fuhr wieder und wieder mit beiden Händen in seine Mähne, teilte mir mit, dass und wo ich Renas Fahrrad abholen konnte. Dann klemmte er plötzlich die langen Seitenpartien
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