Die Mutter
Jasmin da. Es ist mir auch lieber, wenn du hier beim Telefon bleibst. Und wenn Rena wieder anruft, bleib ruhig. Mach ihr keine Vorwürfe. Sag ihr, dass wir uns Sorgen machen, dass wir ihr nicht böse sind, dass wir sie lieben. Du weißt schon.»
Er griff nach meiner Hand. «Und versprich mir etwas, Vera. Lauf nicht wieder in der Gegend herum wie am Freitag. Lass das Auto in der Scheune und Hennessen in Ruhe. Wenn du nervös wirst und meinst, du musst unbedingt etwas tun, nimm eine Pille. Die Packung liegt im Esszimmer.»
Ich dachte nicht daran, aber ich sagte: «Mach ich.»
Ein paar Minuten später kam Mutter herein und dicht hinter ihr Anne. Mutter machte sich mit ausdrucksloser Miene daran, den Tisch zu decken. Frühstück zu viert! Vater ließ sich nicht blicken. Mutter behauptete, er fühle sich nicht wohl, habe Kopfschmerzen und Beklemmung in der Brust, außerdem klage er über Schwindelgefühle und ein sonderbares Kribbeln im rechten Arm. Sie schaute geflissentlich an mir vorbei, bat Jürgen, nach Vater zu sehen, bevor er in die Stadt fuhr. «Fährt Vera mit in die Praxis?»
Jürgen schüttelte den Kopf und ging hinauf, um Vaters Blutdruck zu messen. Eine Pille verabreichte er nicht, verordnete stattdessen Bettruhe und wies mich an, ab und zu nach Vater zu sehen. Sollte sich das Kribbeln im Arm im Laufe der nächsten Stunde nicht geben, wäre es besser, wenn ich ihn für eine gründliche Untersuchung ins Krankenhaus brächte. «Vielleicht hat er nur falsch gelegen. Ich weiß nicht. Pass auf ihn auf, ja?»
Um halb acht verließen Jürgen und Anne das Haus. Mutter räumte den Tisch ab. Sie ließ sich Zeit, sortierte das Geschirr in Zeitlupe in den Spüler. Dabei drehte sie mir den Rücken zu.
Und plötzlich fragte sie: «Ist das der Dank? Dein Vater liegt da oben und ist einem Herzinfarkt nahe und du hältst es nicht einmal für nötig, dich bei ihm zu entschuldigen.»
«Wofür soll ich mich entschuldigen? Dass ich gefragt habe, warum er sie nicht abgeholt hat? Das weiß ich inzwischen. Mutter, ich habe nicht ihn angegriffen, sondern dich.»
Sie fuhr zu mir herum, tippte sich mit dem Finger gegen die Brust. «Mich? Wieso mich? Hätte ich zum Stall fahren sollen?»
«Warum nicht? Früher hast du Lastwagen gefahren.»
Sie schüttelte den Kopf. «Du hast den Verstand verloren.»
«Nein», sagte ich. «Nur ein Kind. Hast du eine Ahnung, was für ein Gefühl das ist? Hast du überhaupt ein Gefühl?»
Sie hatte keins, das wusste ich. Es hatte eine Zeit gegeben, da konnte ich mir keine Filme anschauen, in denen ältere Frauen ihre erwachsenen Töchter in die Arme nahmen. Ich brach in Tränen aus, wenn ich das sah, wünschte mir, eine Mutter zu haben, die trösten, raten und helfen konnte. Die mir das Gefühl gab, dass noch ein Mensch über mir stand, der wusste, wie man gewisse Situationen meistert.
Sie presste die Lippen aufeinander. Ich verließ die Küche und wusste nicht, wohin mit mir. Hinauf zu Vater? Mich doch bei ihm entschuldigen? Ich schaffte das nicht und musste ohnehin zuerst duschen. Dann stand ich vor dem Spiegel in unserem Bad. Und Rena schmachtete mich an. «Nur eine halbe Stunde, Mutti, bitte, bitte, bitte.»
Um eine halbe Stunde verpasst.
Bitte, komm zurück.
Bitte, sei nicht tot.
Bitte, tu mir das nicht an. Wie soll ich damit leben?
Ich sah mich im Kreißsaal liegen. Jürgen legte sie mir auf den Bauch. Sie war so klein und so erschöpft von den Strapazen der Geburt. Sie schrie nicht, wie Anne es getan hatte, quengelte nur ein wenig und schnaufte, ächzte, stöhnte und seufzte, als sei es eine Qual, zu atmen und zu leben.
Die ersten Wochen mit ihr brachten mich an den Rand eines Nervenzusammenbruchs. Sie trank nicht genug, spuckte viel, nahm nicht zu und litt unter Bindehautentzündung. Ihre Füße waren nicht in Ordnung. Eine Neigung zu Sichelfüßen, sagte der Kinderarzt und wies mich an, ihre Füße zu massieren. Sie mochte das nicht, es tat ihr wohl weh. Wenn sie schrie, zog ihre Brust sich nach innen. Jürgen nannte es eine Veranlagung zur Trichterbrust.
Mit drei Monaten reagierte sie noch nicht auf Lichtreize, ignorierte jedes bunte Spielzeug, das man ihr vorhielt. Ich begann zu glauben, sie sei geistig behindert. Und ich hatte Angst. Ich hatte so wahnsinnige Angst, dass ich damit nicht fertig wurde. Mit Anne hatte es keine Probleme gegeben. Anne war ein Bilderbuchbaby gewesen, rund und rosig. Und Rena …
Es dauerte Minuten, ehe ihr Gesicht aus dem Spiegel verschwand
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