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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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meiner Großmutter war das anders. Sie hatte die Uhrzeit notiert. «Es ist jetzt acht Uhr abends. Ich muss gehen.» Der letzte Satz in einem Abschiedsbrief.
    Liebe Lena,
    nach all den Jahren, die ich mit deinem Vater gegangen bin, kann ich ihn auf seinem letzten Weg nicht allein lassen.
    Die Pulsadern hatte sie sich geöffnet. Das weiß ich von Vater. Mutter hat nie darüber gesprochen. Sie hat danach auch nie wieder von ihrer Kindheit erzählt. Und nie wieder einen Telefonhörer angefasst. Als wir die Anschlüsse im Haus verlegen ließen, Hauptanschluss in der Diele, Nebenanschlüsse in den Schlafzimmern, wehrte sie sich mit Händen und Füßen. «So ein Ding kommt mir nicht neben mein Bett. Ich brauche kein Telefon.»
    Weit draußen sah ich ein paar Traktoren. Sie gingen nur ihrer gewohnten Arbeit nach. Ich setzte mich in mein Auto, der Schlüssel steckte. Ich fuhr los. Zur Landstraße. Und dann nach links.
    Klinkhammer machte einen Denkfehler. Wenn Rena mit einem der Jungs aus Nita Kolters Clique verabredet hatte, sie bei Hennessen abzuholen, hätte sie ihn für sechs oder sieben Uhr bestellt. Niemand hatte Matthos Tritt in den Leib der trächtigen Fuchsstute vorhersehen können.
    Und wenn Rena wusste, dass um sechs oder sieben der graue Kleinbus wartete, hätte sie sich kaum so lange bei der verletzten Stute aufgehalten. Oder andersherum: Keiner dieser Chaoten hätte drei oder vier Stunden bei der Einfahrt gewartet. Und wenn doch, hätte er den Tierarzt gefragt, ob Rena nicht auch bald käme.
    Im Geist sah ich sie vor der Tür stehen, den einen zu seinem Auto gehen. Und Vaters Stimme spukte mir durch den Kopf. Gasthof Schwinger! Inzwischen musste sich Renas Verschwinden im Dorf herumgesprochen haben, auch bei denen, die keine Tageszeitung bekamen. Das funktioniert in so einem Kaff wie die Trommeln im Urwald. Und der Gasthof Schwinger ist die zentrale Buschtrommel. Wenn irgendwo ein Floh hustet, im Gasthof Schwinger weiß man es. Wenn einer den Hund seines Nachbarn getreten hat, im Gasthof Schwinger hält sich das wochenlang.
    Dort hatte Jürgen vor Jahren erfahren, dass nur der alte Reuther als sein Erzeuger in Frage kam. Dort wurde auch hinter vorgehaltener Hand gewispert, der alte Reuther hätte beim Tod von Jürgens Schwester ein wenig nachgeholfen. Er habe die Katze so lange in den Kinderwagen gelegt, bis sie endlich begriff und sich auf das Gesicht des Babys legte.
    Ich wollte kein Gerücht in die Welt setzen, auch keine wilden Anschuldigungen gegen Hennessen erheben, nur ein paar Fragen stellen. Irgendeiner vor dem Tresen! Es musste niemand aus dem Dorf gewesen sein. Neben der Eingangstür des Gasthofs offerierte ein Schild Fremdenzimmer. Von Jürgen wusste ich, dass ab Mittag der Gastwirt hinter dem Tresen stand. Es hieß, er sei mürrisch und wortkarg, von ihm hätte ich wahrscheinlich keine Antwort bekommen. Vormittags stand seine Frau am Zapfhahn.
    Auch eine Mutter! Ich war nie Gast in ihrem Haus gewesen. Aber als ich hereinkam, wusste sie sofort, wer ich war. Der Lokalteil der Tageszeitung lag aufgeschlagen neben ihr auf dem Tresen. Sie fragte nicht, ob ich etwas trinken wollte. Ohne ein Wort stellte sie mir eine Tasse hin und goss Kaffee ein aus einer großen Warmhaltekanne. Dann schob sie mir einen Teller mit Zuckerwürfeln und Portionsdöschen Kondensmilch zu. Und während ich zwei Zuckerstücke in die Tasse fallen ließ, schenkte sie mir einen Weinbrand ein. Dabei fragte sie: «Noch nichts?»
    Es dauerte nur Sekunden, da wusste ich bereits, dass Rena amDonnerstagabend nicht im Schankraum aufgetaucht war. Nicht aufgetaucht sein konnte, weil das Lokal donnerstags geschlossen war. Ruhetag! Überflüssig, etwas zu erklären oder Fragen zu stellen. Ich trank den Kaffee und den Weinbrand. Ich hatte keine Tasche dabei, keine Papiere, keinen Pfennig Geld. Ich wusste nicht, wie die Frau hieß. Schwinger hieß nur das Haus. Nach ihren Namen fragen mochte ich nicht.
    Wozu braucht man Namen, wenn man allein ist? Ich war allein, trotz Vaters Worten und dem Scheck. Vater war nicht im Stall gewesen am Donnerstagabend um halb elf. Wäre er bei mir oder an meiner Stelle gewesen, er wäre zur letzten Box gegangen. Sofort! Nicht erst am nächsten Tag.
    Ich hatte mich nie zuvor so gefühlt: eingeschlossen mit dem fürchterlichen Verdacht, dass sie hinten gelegen hatte, als ich vorne nach ihr rief, ausgeschlossen von der Hoffnung auf Hamburg oder sonst einen Ort. Ihr Fahrrad stand am Bahnhof. Wie war es dahin gekommen,

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