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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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gekippt. Und was immer Rena hätte sagen können, kein Wort von ihr hätte Vater zu diesem durchdringenden Nein veranlasst. Mutter hatte von Stimmengewirr aus dem herunterbaumelnden Hörer gesprochen.
    Jürgen fixierte Anne. «Denk nach. Was hast du am Freitag außer dem Weinen sonst noch gehört?»
    Anne zuckte mit den Schultern. «Nur ihren Namen und die Maschine. Als ob jemand zwei Holzstücke aneinander schlägt. Und natürlich das Weinen.»
    Jürgen nickte versonnen vor sich hin. «Bei mir waren keine Hintergrundgeräusche. Aber die Anrufe können von verschiedenen Orten gekommen sein. Wenn sie unterwegs sind.»
    Er atmete tief durch, schaute mich an. «Wer immer heute Mittag am Apparat war, muss mitbekommen haben, dass Vater zusammenbrach. Deine Mutter hat garantiert laut genug gebrüllt. Und darauf hätte Rena irgendwie reagiert. So kaltschnäuzig ist sie nicht. Aber Menke oder dieses Kolter-Weib   …» Er sprach nicht weiter, presste die Lippen aufeinander.
    «Kann ich raufgehen?», fragte Anne.
    «Von mir aus.»
    «Darf ich Patrick anrufen? Ich mache es auch ganz kurz.»
    «Nein», sagte Jürgen. «Die Leitung bleibt frei.»
    Anne schluckte es ohne Widerspruch. Sie ging in ihr Zimmer. Jürgen räumte den Tisch ab, sortierte das Geschirr in den Spüler.
    «Diese Schweinebande», murmelte er. «Was zum Teufel haben sie ihm erzählt, dass er sich so aufgeregt hat? Er war eben noch völligaußer sich. Du hättest ihn sehen müssen. Ich habe den Arzt gerufen, weil ich dachte, er kriegt noch einen Schlag, wenn er so weitermacht.»
    Er schüttelte den Kopf. «Ich verstehe das nicht. Was für einen Grund hatte Rena, sich diesen Sauhunden anzuschließen? Und was für einen Grund hat sie, die ganze Familie in Angst und Schrecken zu versetzen?»
    Ich wollte auch etwas tun, aber ich kam nicht vom Stuhl in die Höhe. Vor meinen Augen tanzte die Schrift aus dem alten Tagebuch.
Ich will es nicht.
    Dass Olgert es gelesen und unter aller Garantie mit Klinkhammer darüber gesprochen hatte, war schlimm. Dass Rena es gelesen hatte, war schlimmer.
    Versteht ein Kind, was in einer Frau vorgeht, die gegen ihren Willen schwanger wird? Anne war noch so klein damals, gerade ein Jahr alt. Aber sie lief bereits und nichts war vor ihren Händen sicher. Was ich in die Schränke räumte, holte sie wieder heraus. Ich kochte das Essen sicherheitshalber nur auf den hinteren Herdplatten, sie schaltete die vorderen Platten ein. Ich ließ meine Handtasche in der Diele stehen. Sie räumte sie aus. Ich dachte, sie sei noch zu klein, um eine Flasche mit Nagellack oder Parfüm zu öffnen. Aber sie konnte es, lackierte die Tapete im Wohnzimmer und kippte das Parfüm auf den chinesischen Seidenteppich, den ich von meinen Eltern zum Geburtstag bekommen hatte.
    Ein hochintelligentes Kind, sagten alle. Hochintelligenten Kindern wird schnell langweilig, sie wollen beschäftigt werden. Da war nichts mit gemütlichen Nachmittagen. Es war unmöglich, mal eine halbe Stunde auf der Couch zu sitzen und eine Zeitschrift zu lesen. Ich ging täglich mit ihr spazieren, das heißt, ich rannte hinter ihr und zerrte den leeren Kinderwagen hinter mir her.
    Der Haushalt blieb liegen, von Monat zu Monat versprach Jürgen mir eine Hilfe, dir wir uns nicht leisten konnten. Er hatte sich verspekuliert, sich von irgendeinem Windhund eine hervorragendeGeldanlage aufschwatzen lassen. Jürgen wollte schnell reich werden, wir wurden schnell arm dabei.
    Ein junger Arzt am Krankenhaus verdient kein Vermögen, trotz all der Stunden, Bereitschafts- und Wochenenddienste. Und wenn er meint, er sei es seinem Beruf schuldig, einen standesgemäßen Wagen zu fahren und sich wie einige Kollegen an einem Bauherrenmodell zu beteiligen, reicht es nicht mehr für andere Dinge.
    Die regelmäßigen Besuche bei meinen Eltern ersetzten den Einkauf beim Metzger und manches andere, was dringend notwendig gewesen wäre. Wenn Mutter mir mit undurchdringlicher Miene die Fleischpakete auf den Tisch legte, wenn sie mich darauf hinwies: «Annes Schuhe sind zu klein, Vera. Siehst du das nicht?» Wenn Vater daraufhin seine Brieftasche zückte, es war beschämend. Vaters Gedanken! Er musste sie nicht aussprechen, ich kannte sie. An welch einen Versager bist du geraten, Vera!
    Kein Versager, nur ein spontaner Mann. Was interessiert mich die nächste Woche? Wir leben jetzt, Vera!
    Und wie wir lebten. Meistens war ich allein. So hatte ich mir mein Leben und meine Ehe nicht vorgestellt. Ein hochintelligentes

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