Die Mutter
Die Mädchen müssen unbeschreibliches Glück gehabt haben, dass sie nicht auch so schwer verletzt wurden. Mitleid mit André Menke hatte ich nicht. Dafür stand mir noch zu lebhaft vor Augen, wie Vater sich quälte, um mir Buchstabe für Buchstabe eine Botschaft zu übermitteln.
«Wir haben ein hervorragendes System ausgearbeitet», sagte ich, erklärte ihm unsere Methode und auch, was Vater die Sprache verschlagen hatte.
Er schoss auf dem Stuhl hoch, als hätte ihn jemand in den Hintern gebissen. «Wann ist dieser Anruf gekommen?»
«Am vergangenen Montag, mittags um halb zwölf. Davor war noch einer, in der Nacht. Mein Mann hat ihn entgegengenommen. Aber dabei wurde nicht gesprochen.»
Klinkhammer schlug mit der Faust auf den Tisch. «Und warum erfahre ich das erst jetzt? Verdammt, Frau Zardiss! Wir waren am Montagnachmittag hier, da lag Ihr Vater bereits im Krankenhaus, und Sie hielten es für überflüssig, ein Wort zu sagen.»
«Wir wussten zu dem Zeitpunkt noch nicht, warum er zusammengebrochen war. Und das Reden hatten doch Sie übernommen.»
Er beruhigte sich wieder, atmete mehrfach tief durch und erhob sich. «Haben Sie etwas dagegen, mit mir in die Stadt zu fahren? Wir können uns während der Fahrt weiter unterhalten.»
Wir gingen hinaus, ich stieg zu ihm ins Auto, er startete und fragte: «Montagmittag, war das der letzte Anruf?»
«Ja.»
Er nickte vor sich hin, als habe er keine andere Auskunft erwartet, und fuhr ziemlich schnell zur Landstraße hinunter. «Was meint Ihr Vater mit Uhr?»
«Keine Ahnung.»
«Und er ist völlig sicher, dass ein junger Mann am Telefon war?»
«Ich nehme es an, sonst hätte er es nicht so betont.»
«Kann ich mit ihm reden? Ist er ansprechbar?»
«Nicht immer.»
«Vielleicht irrt er sich. Er war ziemlich aufgeregt, und wenn jemand weint, kann das eine Stimme stark verändern. Nehmen wir mal an, es war ein Mädchen am Telefon.»
Warum sollten wir das annehmen? Ich wollte nicht spekulieren, nur wissen, was geschehen war. Er bog nach rechts in die Landstraße, ohne den Blinker zu setzen, und trat das Gaspedal fast durchs Bodenblech. Mein Magen rebellierte schon in der ersten Kurve, als er sagte: «Die Kollegen in Frankfurt vermuten, dass es Menke am Montagvormittag zwischen zehn und elf erwischt hat. Kann Ihre Tochter Auto fahren?»
Ich verneinte und versuchte, die Stücke im Kopf zusammenzusetzen. Auto fahren! Montagvormittag! Das war eine Woche her!
«Wann haben Sie erfahren, dass Menke im Krankenhaus liegt?»
Er war auf die Straße konzentriert. Eine Kurve nach der anderen. Er wolle sich nicht ablenken lassen, sagte er, ich solle mich ein paar Minuten gedulden. Er wisse ja auch noch nicht viel. Über das wenige könnten wir in Ruhe reden, wenn mein Mann dabei wäre.
Viel länger als ein paar Minuten brauchte er wirklich nicht. Es gab keinen freien Parkplatz vor der Praxis. Er ließ den Wagen auf der Straße stehen, wir stiegen aus, er griff nach meinem Arm. Mir war entsetzlich übel. Klinkhammers Verhalten, sein Ausweichmanöver, es ließ nur einen Schluss zu. Da braute sich etwas über unseren Köpfen zusammen … Falsch! Es war bereits etwas geschehen. Und es war schlimm genug, dass er es lieber mit Jürgen besprechen wollte als mit mir.
Man kann nicht denken in so einem Moment. Es rauscht und knistert im Kopf, man fängt Wortfetzen und Satzteile von Gedanken auf wie von einer durch atmosphärische Störungen zerhackten Rundfunksendung.
Im Wartezimmer saßen zwei Frauen. Jasmin telefonierte, als wir hereinkamen. Jürgen und Sandra Erken waren mit einer Patientin im Untersuchungsraum. Klinkhammer schickte mich, ihn zu holen.
Ich weigerte mich. «Ich kann da nicht einfach hineinplatzen.»
Er trommelte mit den Fingerspitzen auf den Tresen der Anmeldung, bis Jürgen erschien. Sandra ging mit einem Abstrich ins Labor. Jasmin bat die beiden Frauen um etwas Geduld. Wir gingen ins Sprechzimmer. Jürgens Miene war wie aus Eis gemeißelt, kalt und fremd. Da regte sich nichts, während Klinkhammer sprach. Zuerst nur die Tatsachen.
Vor gut einer Stunde hatte Menkes Vater ihn angerufen. Erst kurz zuvor war Walter Menke von der Frankfurter Polizei über den Aufenthaltsort und den kritischen Zustand seines Sohnes informiert worden. Aber die Polizei in Frankfurt war weder nachlässig noch desinteressiert, wenn es um jugendliche Streuner ging. Dass sie sich eine Woche Zeit gelassen hatten, die Eltern eines Schwerverletzten zu benachrichtigen, lag an der
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