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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Und unsere Tochter hat sich ihr angeschlossen. Nenn mir einen vernünftigen Grund, aus dem Rena sich entschieden haben sollte, auf den Strich zu gehen! Das ist lächerlich.»
    Ich hätte ihm mehrere Gründe nennen können, nicht für den Strich, nur dafür, sich Nita anzuschließen. Er wollte sie nicht hören. Für ihn war Rena nicht in diesem grauen Kleinbus gewesen. Für ihn ergaben drei Blutgruppen drei Personen. Bei einem Kampf wäre eine vierte Person – wäre Rena – unweigerlich ebenfalls verletzt worden wie Nita und Menke.
    Er argumentierte mit Renas Fahrrad, das die Polizei unter den Tisch hatte kehren wollen. Und wir Idioten hätten es völlig aus dem Blickfeld verloren, weil wir uns von ihnen die Hölle heiß machen ließen. Rena ist mit dem Rad zum Bahnhof, mit dem Zug um halb elf nach Köln und von da aus weiter nach Hamburg. Und damit basta! Vera, wir reden später in Ruhe. Ich habe jetzt keine Zeit. Jasmin, schick Frau Sölde in Kabine eins. Vera, setz dich ins Wartezimmer. Sandra, gib meiner Frau eine Valium und ein Glas Wasser.
    Ich konnte nicht im Wartezimmer sitzen, musste raus, zum Krankenhaus, nach Köln, nach Hamburg, nach Frankfurt, mit André Menke reden. Sandra kam mit der Pille und dem Wasser. Frau Sölde war in Kabine eins verschwunden, Jürgen im Untersuchungsraum, Sandra folgte ihm. Ich lieh mir von Jasmin zwanzig Mark für ein Taxi.
    «Soll ich eins rufen?», fragte sie.
    Noch nicht. Das Stück zum Krankenhaus musste ich laufen. Wenn man rennt, hat man das Gefühl, etwas zu tun. Vater schlief, als ich ins Zimmer stürzte. Klinkhammer war bereits bei ihm gewesen und vom behandelnden Arzt in die Wüste geschickt worden, wie Mutter sich herabließ mir zu erklären.
    Mutter war erleichtert und deshalb bereit zu reden. Am frühen Morgen hatte Vater ein paar Worte sagen können. Nicht viel mehr, als dass er gut geschlafen habe. Mutter behauptete, sie hätte ihn gut verstanden. Ich wollte Vater wecken. Mutter riet davon ab. «Er braucht Schlaf, Vera, viel Schlaf und viel Ruhe. Das hat der Arzt auch zu Herrn Klinkhammer gesagt.»
    Mutter verstand die Aufregung nicht, wollte nichts hören von Frankfurt und Pferdchen, nichts wissen von Babystrich, Heroin und Gewalt. Das war nicht ihre Welt. Es war die Welt, an der junge Menschen verzweifelten und zerbrachen. Aber uns passierte so etwas nicht. Hatte ich Vater nicht erklärt, dass André Menke sich einen üblen Scherz mit uns erlaubt hatte? Wenn es nicht Menke gewesen sein konnte, dann eben Nita oder Rena. Es änderte nichts am üblen Scherz. Und was heißt: Rena hat Menke den Schädel eingeschlagen? Ich bitte dich, Vera, was sind das für Ausdrücke? Du übertreibst wieder. Wenn die jungen Leute einen Streit hatten, muss man doch nicht mit solchen Kraftausdrücken um sich werfen!
    Für mich brach eine Welt zusammen. Mutter klammerte sich an ihre heilige Ordnung. Und seltsamerweise tat sie mir Leid. Ich konnte nachvollziehen, was sie fühlte. Eine Frau ohne Boden unter den Füßen, von der Mutter allein gelassen in einer Welt, die sich einen Dreck um Stil und gute Manieren, um sorgfältig gedeckte Tische und liebevoll garnierte Torten scherte. Wem der innere Halt fehlt, der klammert sich an den äußeren Rahmen. Saubere Fingernägel und ein frisch gewaschenes Gesicht, gute Schulnoten und blitzsaubere Freunde. Man sollte sich im Alter an seinen Enkelkindern erfreuen dürfen und nicht ins Grab getrieben werden von ihnen. Irgendwann stand ich am Bankschalter und erinnerte mich nicht, das Krankenhaus verlassen zu haben. Aber ich wusste noch, dass ich Mutter eine Hand auf die Schulter gelegt und gesagt hatte: «Wahrscheinlich hast du Recht. Wenn Vater aufwacht, sag ihm, dass ich hier war. Dass ich mich gefreut habe über die gute Nachricht. Dass ich hoffe, euch bald wieder bei mir zu haben. Es wird höchste Zeit, dass ihr heimkommt. Ich schaffe das nicht allein mit dem großen Haus und dem Garten.»
    Und nach einer kurzen Pause hatte ich mich erkundigt: «Würdest du mir eine Frage beantworten? Du hast doch auch etwas gehört, als Vater der Telefonhörer aus der Hand fiel. Zu Jürgen hast du gesagt, es sei Stimmengewirr gewesen. Wie klang es für dich?Wie auf einem Bahnhof? Hast du vielleicht eine Lautsprecherdurchsage oder etwas Ähnliches gehört?»
    Ein Kopfschütteln, eine nachdenkliche Miene, nach ein wenig Zögern die Auskunft: «So genau habe ich nicht darauf geachtet. Aber ein Bahnhof   … ich weiß nicht. Ich weiß gar nicht mehr, wann ich

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