Die Mutter
unterhalten, dass du genau weißt, wie er dieses oder jenes ausdrückt.»
Anne zuckte mit den Schultern, schaute mich an. «Du solltest damit zur Polizei gehen, Mutti.»
«Wozu?» Jürgen lachte abfällig. «Bei grobem Unfug schreiten sie nicht ein.»
«Trotzdem», sagte Anne. «Großvater meint es ja auch. Aber was meint er mit Uhr?»
«Keine Ahnung», sagte ich. «Vielleicht sollte ich Klinkhammer wenigstens anrufen.»
Jürgen breitete in einer großartigen Geste die Hände aus. «Bitte, tu dir keinen Zwang an. Wenn du so großen Wert auf eine weitere Moralpredigt legst.»
Ich ging nicht zur Polizei, rief auch nicht an. Ich konnte nicht nach der letzten Vorstellung, die Klinkhammer gegeben hatte. Jürgen hatte doch Recht. Das Wochenende verging. Anne verbrachte die meiste Zeit bei Patrick, zwei Stunden am Bügeltisch und eine halbe an Vaters Bett. Danach war sie zuversichtlich. «Ich finde, Großvater hat sich schon ein bisschen erholt. Meinst du nicht auch, Papa?»
Jürgen nickte. Vaters Zustand war unverändert kritisch. Er dämmerte vor sich hin; entweder war er zu schwach, um dem, was ermir am Freitag diktiert hatte, noch etwas hinzuzufügen, oder meine Erklärung hatte ihn beruhigt.
Der behandelnde Arzt sorgte sich inzwischen mehr um Mutter. Man hatte ihr ein Bett in Vaters Zimmer gestellt, aber sie schlief nicht. Man servierte ihr regelmäßig die üblichen Mahlzeiten, aber sie aß nicht. «Sie reibt sich auf», sagte der Arzt. «Sie sitzt Stunde um Stunde neben ihm, Tag und Nacht. Sie spricht mit ihm, wäscht ihn, füttert ihn. Sie nimmt den Schwestern vieles ab, was die natürlich gerne sehen. Aber so geht das nicht weiter.»
Ich solle ein ernstes Wort mit Mutter reden, schlug er vor. Ausgerechnet ich! War er blind? Oder nur zu beschäftigt, um zu bemerken, dass Mutter das Zimmer verließ, wenn ich hereinkam?
Jürgen übernahm das ernste Wort. Er konnte mit ihr umgehen. «Mutter, sei vernünftig. Du musst dich ausruhen. Mach ihm nicht noch mehr Kummer, als er schon hat. Glaubst du, es ist seiner Genesung förderlich, wenn du vor Erschöpfung zusammenbrichst?»
Und wieder Montag. Anne ging um halb acht zur Scheune, Jürgen eine halbe Stunde später. Ich verließ das Haus kurz vor neun. Mein Tank war fast leer, mein Portemonnaie ebenfalls. Zuerst zur Bank, dann zur Tankstelle, dann zum Krankenhaus, so stellte ich mir meine Fahrtroute vor. Ich kam nicht mal zur Einfahrt raus.
Als ich aus der Scheune fuhr, bog Klinkhammer in den Hof ein. Er stieg aus, trat zu mir an den Wagen, strich sein Haar aus dem Gesicht und grinste kameradschaftlich. «Da habe ich ja Glück.»
Er nahm an, ich sei auf dem Weg in die Praxis und spät dran. Aber er wollte nur ein paar Minuten; es lohne kaum, ins Haus zu gehen, meinte er. Trotzdem, drinnen sei es bestimmt gemütlicher. Draußen war es kühl und feucht. Wir gingen hinein. In der Diele stutzte er kurz, registrierte den Anrufbeantworter und die Null auf dem Zählwerk. «Wann haben Sie sich den zugelegt?»
«Am Dienstag.»
Er folgte mir in die Küche, fragte, ob er rauchen dürfe, zündete sich eine Zigarette an. «Es tut mir Leid», begann er, nachdem erden ersten Zug genommen hatte, «wenn ich Sie bei unserem letzten Besuch zu hart angefasst habe und Sie deshalb Hemmungen hatten, sich regelmäßig bei uns zu melden. Oder hatte das andere Gründe?»
«Nein.»
Er verzog das Gesicht, als wollte er grinsen und wüsste nicht, welche Muskeln er einsetzen musste. «Wir sind daran gewöhnt, dass die Eltern in solchen Fällen dreimal täglich anrufen oder persönlich erscheinen. Wenn Sie das nicht tun, wenn man eine volle Woche nichts von Ihnen hört und Sie nicht mal das Fahrrad Ihrer Tochter abholen, wird man stutzig. Da kommt man schnell auf dumme Gedanken.»
Wir saßen am Küchentisch. Renas Fahrrad hatte ich völlig vergessen. Ich schaute durchs Fenster zum offenen Scheunentor und in die Dunkelheit dahinter. Ich sah Bella da stehen und Rena auf sie zugehen. Was sagt man zu einem hübschen Geschenk? Danke! Und was sagt man zum falschen Geschenk? Ich wünsche mir, ich könnte mit ihm gehen!
«Was verstehen Sie unter dummen Gedanken?»
Aus den Augenwinkeln sah ich ihn mit den Schultern zucken. «Nicht so wichtig.» Eine kurze Pause, noch ein Zug aus der Zigarette. Irgendeiner hat einmal gesagt, die Zigarette sei das liebste Hilfsmittel unsicherer Leute. Wer nicht weiß, was oder wie er es sagen soll, kann mit jedem Zug ein paar Sekunden Zeit schinden. Genau das tat
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