Die Mutter
wie: «Das muss sie von mir haben!» Tu dir das nicht an, Vera.
Fünf Minuten oder eine Ewigkeit saß ich da. Gretchen ließ sich Zeit. Oder mir? Das Zimmer war aufgeräumt, ein sauber ausgewischter Aschenbecher auf dem Tisch und eine Vase mit ein paar Astern. Zwei Kissen auf der Couch mit akkuraten Kniffen in der Mitte. In einem offenen Schrankfach eine vergilbte Fotografie hinter Glas in einem Silberrahmen. Jürgen im Alter von vier Jahren, mit schiefem Grinsen ein Baby auf dem Schoß haltend.
Endlich kam sie, hielt ein Tablett in den Händen. Kaffeekanne, Porzellan, Milch und Zucker und ein kleines Glas mit einer wasserhellen Flüssigkeit. Es war beschlagen. «Man gönnt sich ja sonst nichts», grinste sie einen Werbespot nach. «Nun kipp ihn schon, tut gut, hilft dem Magen und dem Herz und macht’s der Zunge leichter.»
Ich trank das Glas in einem Zug leer. Sie füllte die beiden Tassen, setzte sich auf die Couch und häufte Zucker in ihren Kaffee. «Sieht nicht gut aus, was?», stellte sie fest und warf einen Blick zu der Fotografie auf dem Schrank hinüber.
«Wenn sie klein sind», sagte sie leise, «ist es schlimm. Da bleibt einem nur die Vorstellung, dass sie als pausbäckiges Engelchen auf einer Wolke sitzen. Und an so einen Quatsch hab ich nie geglaubt. Aber wenn man sie sechzehn Jahre lang großgezogen hat, sind sie aus dem Gröbsten raus. Da hätte man sie eh nicht mehr lange um sich gehabt. Kann man sich da nicht sagen, irgendwann gehen sie alle? Und wo sie hingehen, geht es ihnen gut?»
«Wo sie hingegangen ist, kann es ihr nicht gut gehen.»
Sie hörte mir zu, rührte bedächtig in ihrem Kaffee, ließ durch nichts erkennen, ob sich etwas in ihr regte. Als ich zum Ende kam, meinte sie: «Hört sich schlimm an, muss es aber nicht sein. Ich könnt mir denken, dass der Doktor Recht hat, dass sie nur bis zum Bahnhof mitgefahren ist. Natürlich kann’s auch sein, dass sie nur das Rad am Bahnhof abgeladen haben. So viel Platz ist ja nicht in ’nem Kleinbus, wenn sie auch drin kampieren wollten.»
Sie holte tief Luft, ließ mir keine Zeit für eine Antwort. «Wenn du nur gekommen bist, um mich zu fragen, ob sie mir was erzählt hat, können wir’s kurz machen. Nein, nichts darüber, dass sie weg wollte. Ich würd’s dir sagen, wenn sie es getan hätte. Aber mir hat sie nicht mal erzählt, dass sie noch Freunde in der Stadt hat.»
Sie lächelte schelmisch. «Vielleicht hat sie gedacht, ich leb hinterm Mond und krieg einen Schreck, wenn sie mir von Vampiren erzählt. Josefine hat ja auch einen Schreck gekriegt. Die wird gar nicht fertig damit, im Dorf zu erzählen, wie die Kleine aussah, die auf Hennessens Hof schneite. Das hätt sie von Rena nicht gedacht, hat Josefine zur Ziegler gesagt, dass sie sich mit solchem Gesindel abgibt. Rena hätte immer so einen netten Eindruck gemacht, still und bescheiden. Da könnt man mal wieder sehen, wie man sich in den jungen Leuten täuschen kann.»
Ich wollte nicht über Hennessens Schwester und ihre Eindrücke reden. Aber anscheinend gab es für Gretchen über Rena nichts weiter zu sagen. Es sah aus, als warte sie darauf, dass ich aufstand und ging. Als ich mich nicht rührte, sprach sie weiter. «Warum wartest du nicht, bis der Polizist zurückkommt? Der wird sich kaum tagelang in Frankfurt aufhalten. Heute Abend ist er bestimmt wieder hier. So groß ist das Spesenkonto bei denen nicht, dass es für ein Hotel reicht.»
«Ich kann nicht warten.»
Sie lächelte erneut, ein bisschen wehmütig diesmal. «Konnte ich auch nie. Hab immer gedacht, morgen bin ich vielleicht tot, und dann wird nix mehr draus. Aber manchmal geht’s nicht anders. Da muss man warten, auch wenn’s schwer fällt. Dir wird nichts anderes übrig bleiben. Und so lang ist es doch nicht bis heute Abend.»
«Vielleicht weiß Menke nicht, wo die Mädchen sind. Und wenn er es weiß, sagt er es vielleicht nicht.»
Sie wiegte bedächtig den Kopf. «Ja, damit muss man rechnen. Und was willst du dann tun, selbst nach Frankfurt? Willst du da rumlaufen und im Dreck wühlen? Tu’s, wenn du meinst, dass es sein muss. Zwei Tage geb ich dir, länger stehst du das nicht durch. Du hast keine Ahnung, wie es in der Gosse zugeht. Willst du noch ’n Schnaps?»
Ich nickte, sie ging in die Küche, kam mit der Flasche zurück, schenkte mir ein. Ich trank und sie füllte noch einmal auf.
«Sauf ruhig, manchmal hilft’s. Bist ja nicht mit dem Auto. Otto kann dich fahren, wenn er von Hennes zurückkommt. Er
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