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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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sei nur Unsinn. Seine Miene war wie ein Stacheldrahtzaun, hinter dem sich Eisberge türmen.
    Ein Tontechniker hatte sich viel Mühe gegeben, die Stimme aus dem Chaos herauszufiltern. Für Jürgen gab es nicht den geringsten Zweifel, weder bei der Stimme noch beim Weinen in der Nacht zum Montag. Wenn Anne sich ihrer Sache beim ersten Anruf nicht hundertprozentig sicher war, Jürgen war es und damit basta!
    Nita hatte dreimal bei uns angerufen! Beim letzten Mal hatte sie fast unseren armen Vater, Schwiegervater und Großvater auf den Friedhof gebracht. Und wenn Jürgen das verdammte Kolter-Weib jemals in seine Finger bekam, er wollte ihr das verkorkste Hirn aus dem Schädel reißen. Punkt und Schluss.
    Anne weinte ein paar Tränen und spekulierte, welche Veranlassung Nita gehabt haben könnte, sich bei uns zu melden. Es musste einen besonderen Grund gegeben haben, sonst hätte sie uns niemals angerufen. Vielleicht hatte der Fremde im Bus nicht nur Menke auf dem Gewissen, vielleicht hatte er auch Rena getötet, weil sie sich wehrte. Und Nita hatte gesehen, wie Rena starb. Nun bereute sie, Rena mitgenommen zu haben, und wollte sich bei uns entschuldigen. Das erklärte für Anne den letzten, jedoch nicht die ersten beiden Anrufe. Da war doch noch gar nichts passiert!
    Jürgen verbot Anne den Mund. Dem Nächsten, der in seiner Gegenwart den Namen Nita aussprach, wollte er die Zähne einschlagen.
    Ich sah Rena nicht tot. Ich sah nur tote Bilder. Rena auf einer schmutzigen Matratze, über ihr ein stinkendes, schwitzendes, fettes Bündel Mann. Und Nita sagte: «Pferdchen wollte das nicht tun.»
    Ich sah sie im Krankenbett mit diesem komplizierten Bruch, wie sie ihr Gesicht von mir wegdrehte. «Ist doch mein Fuß.»
    Mein Fuß, mein Leben! Ich habe mich durch eigene Blödheit in diese Lage gebracht, Mutti, ich trage die Konsequenzen allein. Ich stehe es durch bis zum bitteren Ende. Was soll ich dich um Hilfe bitten, Mutti? Du hörst mich doch nicht, wenn ich rufe. Du hast mich doch gar nicht gewollt.
    Das war das Schlimmste. Oder nicht. Ich weiß nicht, was das Schlimmste war. Heute dies und morgen das und übermorgen jenes. Und jeden Tag warten!
    Vater ging es besser. Er saß aufrecht im Bett, als wir ihn am Sonntag besuchten. Er lächelte uns entgegen, und es war nicht mehr so schief. Seine rechte Hand lag wie ein totes Tier auf dem Laken. Die Linke zu beherrschen schien ihm viel Mühe zu bereiten. Eine Tasse konnte er nicht halten. Mutter ließ ihn trinken. Zwei, drei Worte – ein Schluck Tee.
    Er konnte tatsächlich reden. Seine Sprache klang verwaschen wie die eines Volltrunkenen. Mir gelang es nicht, mich darauf zu konzentrieren und den wenigen Worten zwischen den Teeschlucken einen Sinn abzugewinnen. Aber ich hatte auch zu viel anderes im Kopf.
    Ich saß da, schaute ihn an, lächelte, wenn sein besorgter Blick mich traf. Und manchmal glaubte ich, der graue Kleinbus müsse durch mein Lächeln brechen und ihm in den Schoß fallen. Und mit dem Bus ein toter André Menke, eine im Drogenrausch handlungsunfähige Nita und Rena, ein hübsches, junges, unschuldiges Mädchen, an dem jeder Freier seine helle Freude hätte.
    Vater sprach von Klinkhammer, so viel bekam ich mit. Klinkhammer war am Freitag im Krankenhaus gewesen, mit drei Bändern. Einmal der komplette Mitschnitt aus Frankfurt, einmal nur die Stimme, einmal der Hintergrund.
    Vater war verärgert und Mutter besorgt, dass er sich erneut aufregte. Plötzlich sprachen sie beide gleichzeitig und gerieten beinahe in Streit über das, was sie an dem Montag durch das Telefon gehört hatten. Mutter bestand auf der feinen Gesellschaft, dem dezentenGemurmel und dem Ruf im Hintergrund. Vater beharrte auf völliger Stille und einem markanten Schlag.
    «Westminster», sagte er energisch und versprühte Teetröpfchen über das Laken und seine nutzlose Hand. Die Linke unterstrich die Worte mit heftigen Bewegungen. Mutter hielt ihm die Tasse an die Lippen, er winkte unwillig ab und sagte: «Drei Minuten vor!»
    «Ich weiß», sagte Jürgen. Er klang mit einem Mal müde und niedergeschlagen, tätschelte Vaters Hand und warf mir einen raschen, undefinierbaren Blick zu. «Klinkhammer hat’s mir gestern gesagt. Aber du musst dich geirrt haben, Vater. Westminster hat keinen Schlag. Es kann höchstens Big Ben gewesen sein. Warte mal, vielleicht kriege ich das hin.»
    Jürgen gab ein paar Töne von sich, in denen ich eine bestimmte Melodie erkannte. Vater geriet völlig außer sich, die

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