Die Mutter
behielt die Oberhand, stieg mit seiner Beute ein und schloss die Tür. Das Mädchen klopfte mit beiden Händen dagegen, stand mit hängenden Schultern da. Und dann … hatte der Autofahrer die lang gezogene Kurve passiert, die ersten Häuser versperrten ihm die Sicht nach hinten. Auf die Idee, der Sache im strömenden Regen auf den Grund zu gehen, kam er nicht.
Nun haben wir zwei Möglichkeiten, Frau Zardiss. Ihre Tochterkann zur Beifahrerseite gegangen und dort eingestiegen sein. Oder nicht. Wenn sie eingestiegen ist, ist sie vielleicht nur ein kurzes Stück mitgefahren. Sie wollte vermutlich zum Hof der von Wirths und könnte André Menke gebeten haben, sie dorthin zu bringen. Mehr können wir im Moment leider nicht sagen.
Keine Rede mehr davon, dass Rena Menke zusammengeschlagen haben könnte. Es war ja auch nur eine wilde Spekulation gewesen. In Frankfurt hatte nie ein Mensch daran geglaubt. Wenn ein junges Mädchen sich bedroht fühlt und in Panik gerät, schlägt es blindlings zu – auf eine Stelle oder auf jede, die es treffen kann. Es zerschlägt nicht systematisch Hände, Arme, Rippen, Unterschenkel und Kniescheiben. Diese Methoden waren in gewissen Kreisen üblich, um einem Würstchen vom Lande zu zeigen, dass es Grenzen gab für die Konkurrenz.
Mir schluchzte immer noch Nita in den Ohren: «Pferdchen wollte das nicht tun.» Klinkhammer strich ein letztes Mal seine Mähne zurück und sagte: «Wir müssen warten, Frau Zardiss, bis wir mit Menke reden können.»
Sie konnten nicht mehr mit ihm reden.
André Menke starb am nächsten Tag – ohne das Bewusstsein wiedererlangt, ohne die Möglichkeit gehabt zu haben, der Polizei einen Hinweis auf seinen Angreifer und das, was mit dem oder den Mädchen geschehen war, geben zu können.
Als Klinkhammer es sagte, wussten sie schon, dass kein Mensch mehr mit André Menke reden konnte. Und trotzdem sagte er es. Anne erinnerte sich genau, als sie am Freitag aus der Schule kam. An einem Freitag war eine Todesanzeige in der Tageszeitung. Ich hatte die Zeitung erst aufgeschlagen, nachdem Anne und Jürgen das Haus verlassen hatten. Aber ich saß noch davor am Küchentisch, als Anne heimkam. Sie warf einen Blick über meine Schulter und regte sich minutenlang über die Verlogenheit unserer Gesellschaft auf. Damit war nicht nur die Polizei gemeint.
«In tiefer Trauer um unseren geliebten Sohn André, der durch ein grausames Verbrechen von unserer Seite gerissen wurde».
«Arschlöcher», sagte Anne. Es war das erste Mal, dass ich diesen Ausdruck von ihr hörte. «Vor ein paar Wochen hat Menkes Vater zu Patricks Vater gesagt, wenn es so weitergeht mit André, schlägt er ihm bald den Schädel ein. Der ist doch froh, dass ihm einer die Arbeit abgenommen hat.»
Unter dem Freitag habe ich nur diese Eintragung, die von Bedeutung wäre. Noch ein paar Sätze Wut, ein paar Worte Ohnmacht. Und ein Dutzend leerer Zeilen, die das wiedergaben, was ich fühlte. Mochte die Polizei sich noch so viel Mühe geben, uns in der Luft hängen zu lassen. Mir reichten die schmutzige Jeans und das Sweatshirt als Beweis. Rena war dabei gewesen. Und Menkes Tod hatte den letzten Funken Hoffnung in mir erstickt.
Es war, als hätten sie mir mit der Plastiktüte einen Grabstein gezeigt. Und die Todesanzeige setzte die Inschrift darauf. Keine Chance mehr, sie rechtzeitig zu finden! Meine Rena, das hübsche Mädchen mit den blonden Haaren und dem Herzen voller Pferde kaputtgemacht von wilden Tieren.
Wochenende. Das dritte!
Totenstille im Haus und im Innern. Keine Nibelungenlieder, keine kessen Sprüche, kein flinkes Unter-der-Dusche-Verschwinden, weil Großmutter sonst Zustände bekam. Ob sie da, wo sie jetzt war, duschen konnte? Es musste doch eine Möglichkeit geben, den Dreck abzuwaschen.
Jürgen fuhr samstags in die Stadt, um diverse Besorgungen zu machen. Aber wichtiger als Brot, Aufschnitt und ein paar Fertiggerichte war für ihn der Besuch bei unseren Freunden und Helfern. Klinkhammer hatte ihn am Freitag in der Praxis angerufen und gebeten, allein zu kommen. Jürgen sollte sich das Frankfurt-Band ebenfalls anhören. Und ihm präsentierten sie eine gereinigte Version. Er sprach erst davon, als er zurückkam. Was sie ihm sonst noch präsentiert hatten, erwähnte er nicht.
Ich fragte ihn, warum er das nicht eher gesagt hatte. Ich wäre gerne mitgefahren, weil ich von Nitas Worten nur einen Satz mit Sicherheit verstanden hatte. Jürgen meinte, da könne ich froh sein, alles andere
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