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Die Mutter

Die Mutter

Titel: Die Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Du hättest bis zur Beerdigung mit Heulkrämpfen im Bett gelegen. Du hättest danach ein paar Wochen gebraucht, um wieder auf die Beine zu kommen. Aber das hätten wir überstanden. Das hier, Vera, das überstehen wir nicht.»

8.   Kapitel
    Es gibt Minuten, die ich gern aus der Zeit radieren möchte. Die Minuten mit Jürgen im Schlafzimmer gehören dazu. Ich wusste, dass er nicht wirklich meinte, was er sagte. Dass er nur zum Ausdruck bringen wollte, wie sehr die Ungewissheit ihn belastete. Dieses Hin und Her, Auf und Ab, heute so und morgen schon wieder ganz anders.
    Klinkhammer und Olgert haben ihm eine Menge zugemutet, viel mehr als mir. Ich war für sie die unberechenbare Person, eine Frau, die zu übereiltem, konfusem und destruktivem Handeln neigt. Dabei hatte ich bis dahin nichts Übereiltes oder Destruktives getan.
    Gut, ich war zu Hennessen marschiert. Aber man hatte Verständnis dafür, dass eine Mutter die Nerven verlor. Ein Vater dagegen hatte Beherrschung zu zeigen. Man brauchte schließlich einen, dem man ohne Umschweife sagen konnte: «Wir haben neue Erkenntnisse! Wir vermuten sie in der Nähe.»
    Eigentlich dürfte es mich nicht wundern, dass Jürgen irgendwann vor ihren neuen Erkenntnissen kapitulierte und sich die Lösung heraussuchte, die es ihm erlaubte, einen Schlussstrich zu ziehen. Es wundert mich auch nicht. Nicht wirklich, meine ich. Nach zwanzig Jahren kennt man die Grenzen eines Mannes. Man weiß die Signale zu deuten. «Bis hierher, Vera, und nicht weiter.»
    Ich wusste, Jürgen hatte seine Grenze erreicht. Trotzdem hätte ich mit den Fäusten auf ihn losgehen mögen, als er von Feldweg und abgeschlachtet sprach. Aber ich warf nur die Schale nach ihm. Ich traf ihn auch. Er machte nicht den Versuch auszuweichen.
    Die harte Plastikkante ritzte ihm eine winzige Kerbe in die Stirn. Das Kasslerstück hinterließ einen Fettfleck auf seinem Hemd und fiel zu Boden. Der Klecks Kartoffelpüree und das Sauerkraut verteilten sich in seinen dünnen Haaren und auf seinen Schultern. Es muss ausgesehen haben wie eine Slapstick-Einlage.
    Aber niemand lachte. Es hörte sich zuerst nur so an. Ein paar glucksende Laute von der Galerie. Ich hatte nicht bemerkt, dass Anne mir gefolgt war. Erst als sie vorbeihuschte, registrierte ich sie. Die aufgerissenen Augen, die Faust, die sie sich vor den Mund presste, die zuckenden Schultern.
    Jürgen dachte wohl auch, sie amüsiere sich. «Bravo», sagte er und klatschte lahm in die Hände. «Wenigstens einem Familienmitglied ist der Nachmittag gerettet.» Dann rief er in Richtung Tür: «Willst du nicht Papis Videokamera holen, Schätzchen, um diesen köstlichen Anblick für die Nachwelt aufzuzeichnen? Ich bin sicher, der liebe Patrick verzeiht dir drei Fahrten mit Udo, wenn du ihm vorführst, wie eine Notlage deine Eltern zusammenschweißt.»
    Auf der Galerie blieb es still – fast   –, nur die glucksenden Laute waren noch da. Jürgen kam langsam auf mich zu, ging an mir vorbei zur Tür und stutzte. Dann war er mit einem Satz aus meinem Blickfeld verschwunden. Ich hörte nur noch seine Stimme. Den warmen, sanften und erzwungen heiteren Ton.
    «Aber, aber! Wir beide werden uns doch von ein bisschen Sauerkraut nicht aus der Fassung bringen lassen. Ich sag dir was: Wir beide gründen unseren eigenen Verein. Und wir nehmen nur Mitglieder auf, die ein ebenso dickes Fell haben wie wir und Nerven wie Drahtseile. Na komm, Weinen macht hässlich. Wo ist mein hübsches Mädchen? Schenk mir ein Lächeln, ich brauche eins. Du darfst mir auch beim Haarewaschen zusehen, wenn du einmal lächelst.»
    Sie versuchte es tatsächlich. Ich sah es, als ich zur Treppe ging. Ich sah auch die Tränen, die ihr dabei über die Wangen liefen. Und ihre Finger, die sich abmühten, Sauerkrautfäden aus seinem Haarzu pflücken. Ich sah seine Arme, die sie festhielten, sein Gesicht an ihrer Schulter. Und im Hinterkopf sagte seine Stimme noch einmal: «Wenn du so weitermachst   …»
    Das überstehen wir nicht!
    Ich weiß nicht, wie ich in die Scheune kam, ich war eben plötzlich drin. Und der Motor lief bereits. Ich hatte Annes Stimme noch im Ohr: «Papa, um Gottes willen, lass sie nicht wegfahren. Sie kann doch so nicht fahren.»
    Und seine Antwort: «Wird schon gut gehen. Und wenn nicht, kann ich’s auch nicht ändern.»
    Dann war ich auf der Landstraße. Die erste Kurve, die zweite, die dritte, die vierte, es ging gut. Vorbei an der Stelle, an der Annegret Kuhlmann und ihre beiden Kinder

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