Die Mutter
gestorben waren. Ich hatte das dringende Bedürfnis, umzukehren und Vaters Scheck aus meinem Nachttisch zu holen. Ich hatte panische Angst, Jürgen könne ihn finden und an sich nehmen. Aber es war zu mühsam, auf der schmalen Straße zu wenden. Ich konnte nur fahren und denken: Klinkhammer vermutet sie in der Nähe.
Etwas später hielt ich auf einem Parkplatz neben einem Streifenwagen. Klinkhammer war nicht im Büro. Auch Olgert war unterwegs. Aber ich hatte Zeit. Zum ersten Mal machte es mich nicht verrückt, warten zu müssen. Ich stellte mir vor, wie Jürgen sich die Haare wusch und Anne ihm dabei zuschaute. Wie sie ihren eigenen Verein gründeten. Wie sie zufrieden waren – beide auf dieselbe Art.
Ich hatte immer gedacht, Anne sei mir ähnlich und Rena ihm. Nicht äußerlich, nur vom Wesen her. Äußerlich war es umgekehrt. Jetzt begriff ich, dass ich mich geirrt hatte. Auch Anne war aus seinem Holz geschnitzt. Wie sie da auf der Galerie standen; zwei Menschen, die ihren Intelligenzgrad kannten und die Grenzen ihrer Belastbarkeit. Die keine Nerven zeigten, wenn ihnen eine Prüfung bevorstand, bei der Wissen und Können gefragt waren. Aber wenn es um etwas anderes ging, schrien sie auf oder wehrtenab. Man mochte sie für oberflächlich und egoistisch halten, aber sie waren nicht gefühllos. Sie waren nur anders.
Irgendwann meldeten sich Klinkhammer und Olgert über Funk oder Autotelefon. Man richtete ihnen aus, dass ich in ihrem Büro saß. Eine Viertelstunde später saß Olgert mir gegenüber, ruhig und reserviert, mehr Dressman als Polizist in seinem knitterfreien Anzug, dem tadellosen Hemd und der dezenten Krawatte. Klinkhammer mit seiner Zottelmähne und den verräterischen Gesten wäre mir lieber gewesen, ihn hätte ich leichter durchschaut. Bei Olgert wusste ich nicht, was er dachte.
Dass ich ziemlich konfus war, entging ihm nicht. Ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte, bekam Jürgens Stimme nicht aus dem Kopf. «Hier in der Nähe!» Es fehlte nicht viel und ich hätte vom Sauerkraut erzählt statt vom Regencape und dem Frankfurter Zoo. Irgendwie gelang es mir, einen Satz nach dem anderen zu formulieren und dabei nicht den Eindruck einer Geisteskranken zu wecken. Olgert fand meine Gedanken höchst interessant.
«Ich erinnere mich nicht, wann genau sie mit mir über eine Praktikumsstelle im Zoo gesprochen hat.»
«Am achtzehnten März», sagte er mit einem winzigen Lächeln. «Es war ein Freitag. Drei Tage später, Montag, ist sie mit Udo von Wirth in Köln gewesen. Sie hat keine Stelle bekommen und war sehr enttäuscht. Sie wollte sich dann bei einem Gestüt um einen Ausbildungsplatz bewerben, weil sie meinte, die Schule würde sie doch nicht zu Ende schaffen und Pferdepflegerin sei das Optimale. Ob sie es getan hat, weiß ich leider nicht.»
«Ich auch nicht.»
Er nickte wieder. «Die wenigsten Eltern wissen, was ihre Kinder sich vornehmen. Und wenn es ein Fehlschlag wird, erfahren sie auch nichts davon.»
Ob er mich damit trösten wollte, weiß ich nicht. Er sprach weiter. «Aber was hier nicht funktioniert hat, kann ja in Frankfurt gelungen sein. Der Zoo ist jedenfalls eine Überlegung wert. Vielleichtgibt’s da auch das eine oder andere Gestüt in der Nähe. Wir werden der Sache nachgehen. Und wenn Ihnen sonst noch etwas einfällt, Frau Zardiss …» Der letzte Satz ließ keinen Zweifel; er wollte mich loswerden.
«Was ist mit London? Mein Vater meint …»
«Das läuft bereits. Scotland Yard ist verständigt.»
Die Worte blieben mir fast in der Kehle stecken. Es wunderte mich, dass ich sie über die Lippen brachte, und das auch noch mit einem leicht amüsierten Unterton. «Das ist aber sehr viel Aufwand, wo Sie meine Tochter doch hier in der Nähe vermuten.»
Olgert lächelte sanft und keineswegs schuldbewusst. «Wir gehen jedem Hinweis nach. Und was Ihr Vater am Telefon gehört haben will …» Ein leiser Seufzer fraß den Rest des Satzes. «Es gibt zwar viele Uhren mit diesem Schlag», erklärte er stattdessen. «Aber man sollte das Original nicht ausschließen.»
Noch ein Seufzer, bei dem das Lächeln verschwand. «Nur wurde der Hengst nicht nach London verkauft. Das erschwert die Sache ein wenig. In Großbritannien gibt es keine Meldepflicht, wie wir sie kennen.»
«Der Engländer hat einmal im Gasthof Schwinger übernachtet. Vielleicht hat er dort seine Adresse angegeben.»
Sein Lächeln erschien wieder. «Die haben wir schon. Wenn Ihre Tochter dort auftaucht, werden
Weitere Kostenlose Bücher