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Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)

Titel: Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Seth Grahame-Smith
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diesem kurzen Moment inne, weil unsere Augen uns getäuscht haben. Weil das hier, wie wir uns sagen, gar nicht passiert. Es kann nicht sein. Es kann nicht sein, weil erwachsene Männer so etwas nicht tun. Es kann nicht sein, weil Abdi alt werden wird und ein ganzes Leben zusammen mit uns vor sich hat. Ein ganzes eigenes reiches Leben, voll der Schönheit und vielen Entdeckungen, all der Liebe und den Möglichkeiten, die ein kleiner Junge mit einem warmen Herzen im Leben verdient hat.
    Doch es ist real.
    Der Zenturio zieht die Klinge heraus und lässt die fast gebrochene Hand des Jungen los. Lässt ihn auf den Boden fallen, wo er einen Moment hockt, bis er zur Seite fällt und sich still den Bauch hält. Das Blut läuft ihm über die Finger. Und während Balthasar dies in einer anderen Welt mit ansieht, in der es auf keinen Fall wahr sein kann, stellt er sich vor, wie Abdi an seinem Bein zupft und ruft: »Bal-fasa … Bal-fasa … bleib bei mir …«
    Und die Qualen. Die Schreie seines großen Bruders. Sein großer Bruder – immer noch zu klein, zu jung, um sich gegen die Leibwächter zu wehren, die ihn an den Armen und am Hals gepackt halten. Die ihn durch Schläge zum Schweigen bringen wollen, während er sich aufbäumt und sich die Kehle wund schreit. Und die Menschenmenge ist entsetzt. Still. Machtlos. Es ist nicht ihre Sache. Sie wollen nicht am anderen Flussufer enden, im Nirgendwo verscharrt.
    Ich beobachte das alles, direkt neben Balthasar, doch meilenweit von den unerträglichen Qualen entfernt, die er empfindet. Ich weiß, dass es allein seine Qualen sind. Selbst damals in den ersten Sekunden. Ich ignoriere meine eigenen Schreie und wende mich den seinen zu. Ich sehe mit an, wie Balthasar sich gleich dort auf dem Forum verwandelt. Ich sehe, wie er auf die Knie fällt. Ich sehe, wie er den leblosen kleinen Körper seines Bruders hochhebt, ihn in seinen bebenden Armen hält. Wie er unseren Sohn-zum-Üben hält. Und ich lasse mich auf die Knie fallen und spüre, wie mir Übelkeit die Kehle hinaufkriecht.
    Und jetzt sieht der Zenturio Balthasar in die Augen, und er weiß Bescheid. Er weiß, dass das hier ein Verwandter ist. Ein Bruder. Und er lächelt Balthasar an, weil er es kann. Weil er über dem Gesetz steht. Ein Gott. Und der Zenturio beschließt, ein Zeichen auf dieser syrischen Ratte zu hinterlassen, und er zieht zweimal seine Klinge über Balthasars rechte Wange, sodass ein »X« bleibt. Und genau wie diese Narbe wird das Gesicht des Zenturio Balthasar bis in alle Ewigkeit erhalten bleiben.
    Der Zenturio lässt es nicht bei dem Mord bewenden, sondern fügt dem Ganzen auch noch eine Beleidigung hinzu. Er nimmt sich den Anhänger, der um den Hals des Jungen hängt – reißt ihn ihm vom Hals, während der Kleine keuchend und vergeblich nach Atem ringt – und hängt ihn sich selbst um.
    »Wahrscheinlich sowieso gestohlen«, sagt er zu den Versammelten.
    Und mit diesen Worten verschwindet er. Wird von seinen Leibwächtern rasch durch das Getümmel auf dem Forum geführt.
    Vorsichtshalber, denke ich. Vorsichtshalber verdrückst du dich – für den Fall, dass wir nicht so viel Angst haben, wie du meinst, und wir beschließen, uns gegen dich zu erheben.
    Aber wir haben Angst. Wir haben zu viel Angst, und wir lassen ihn in die Sicherheit und Anonymität der römischen Führungsschicht von Antiochia entwischen. Und als der Zenturio auf Nimmerwiedersehen verschwunden ist, richten wir unsere Aufmerksamkeit wieder auf die beiden Brüder, die er zurückgelassen hat. Einer ist groß, der andere klein. Einer ist tot, der andere wünscht sich, es ebenfalls zu sein.
    Und wir alle werden Zeugen dieses zutiefst intimen Moments. Drängen uns mit unseren Augen in diese Trauer, ohne den geringsten Trost bieten zu können. Gemeinsam werden wir Zeugen, wie das Wesen, das »Balthasar« hieß, zu existieren aufhört, und wir sehen die Geburt eines neuen Wesens. Man wird ihn »den Geist von Antiochia« nennen. Ein wütendes, mordgieriges Wesen.
    Es reicht fortan nicht mehr aus, die Römer zu bestehlen. Er will sie töten. Nein, nicht wollen. »Wollen« ist zu schwach. Es drückt lediglich einen Wunsch aus. Doch selbst »müssen« reicht nicht aus, um zu beschreiben, was jetzt durch seine Adern fließt. Er wird den Zenturio umbringen. Das weiß er so sicher, wie er seinen eigenen Namen kennt. Wie ich möchte er Rom in Grund und Boden brennen. Doch im Gegensatz zu mir weiß er, dass er es tatsächlich tun wird. Nicht heute, nicht

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