Die myrrhischen drei Könige: Roman (German Edition)
Schweigen.
»Bewohner von Jerusalem«, rief er, »Kinder Israels! Heute sind wir zusammengekommen, um zu sehen, wie drei Verbrechern Gerechtigkeit widerfährt!«
Jubel erhob sich, nicht so sehr für das Konzept der Gerechtigkeit, sondern für die blutige Art und Weise, mit der sie gleich ausgeübt werden würde.
»Wir sind gekommen, um die Gesetze Gottes zu ehren! Und wir sind gekommen, um meinen Vater zu ehren, den mächtigen Herodes!«
Antipas wies mit dem Arm auf den Turm über dem Nordtor, und wieder erhob sich Jubel: gerade genug, um überzeugend zu wirken, aber nicht so laut, dass er gönnerhaft klang. Ein Jubel von angemessener Ehrerbietung. Tausende Augen durften einen seltenen Blick auf den mächtigen Herodes persönlich erhaschen – sein Bart dicht und braun, seine Wangen voll, und seine Haut makellos. Herodes hatte nie besser ausgesehen, und er winkte mit kräftiger Hand zu seinen Untertanen hinunter.
Abseits von dem Fenster sah der echte Herodes zu, wie sein Doppelgänger die Menschen täuschte.
Er konnte nicht mehr vor sein Volk treten. Nicht in seinem derzeitigen Zustand. Nicht, solange kein Heilmittel gefunden war. Doch er wollte auch nicht, dass die Juden auf dumme Ideen kamen. Gerüchte in Umlauf brachten. Ihn nicht mehr als den grausamen, starken König wahrnahmen, der er bis vor ein paar Jahren gewesen war.
Der Doppelgänger des Herodes winkte noch ein paar Sekunden und verschwand dann außer Sicht, wie man ihn angewiesen hatte. Es war besser, wenn die Menschen nicht die ganze Zeit über zu ihrem »König« hinaufsahen, die Illusion forschend unter die Lupe nahmen und vom Hauptereignis abgelenkt wurden.
»Wir sind gekommen«, fuhr Antipas fort, »um den Tod von drei Dieben mit anzusehen – die ersten beiden wurden bei dem Versuch gefasst, heilige Gegenstände aus dem Großen Tempel zu stehlen!«
Ein Chor aus Wutgeschrei erhob sich, als die Trommeln wieder einsetzten und die Flügel des Nordtores aufschwangen. Caspar und Melchyor wurden schwer bewacht herausgeführt – schwarze Kapuzen über den Köpfen, die Handgelenke auf den Rücken gefesselt.
Anstatt ihrem Tod mit der ruhigen Würde entgegenzuschreiten, wie es der Anstand von Männern in ihrer Lage forderte, kämpften die beiden gegen ihre Fesseln an und versuchten, sich aus den Griffen der Wachen zu befreien. Je mehr sie sich sträubten, desto lauter jubelte natürlich die Menschenmenge, ja sie geriet geradezu in wilde Verzückung. In den Ohren des Herodes war das alles Musik, und es ließ ihn nur noch sehnlicher wünschen, mit Antipas tauschen zu können. Er wollte dort unten auf der Tribüne sein, persönlich den Kopf des sogenannten Geistes von Antiochia hochheben und ihn gen Himmel halten. Ihn bei den Haaren packen und schütteln, bis auch das letzte Blut seinen Arm hinabgelaufen war. Ihm in die Augen blicken, während diese sich ein paar Sekunden lang hilflos umsahen und dann allmählich nur noch ins Leere starrten. Wie schon unzählige Male zuvor im Laufe der vergangenen drei Jahre verfluchte Herodes insgeheim die Hure, die ihm dies angetan hatte. Die Hure, deren Reize sein Verderben gewesen waren.
Sie war so jung gewesen … so frisch und naiv. Er hatte sie so viele Male, auf so viele Arten genossen. Und obwohl sie sich anfangs widersetzt hatte, war sich Herodes sicher, dass sie es mit der Zeit auch genossen hatte. Doch dann hatte er das Mal gefunden. Die wunde Stelle an ihrer Brust. Noch am selben Tag war eine weitere an ihrem Hals aufgetaucht. Im Laufe der Woche war sie davon übersät gewesen. Übersät von Wunden, die eine übel riechende Milch absonderten. Ihre Augen hatten sich gelb verfärbt, ihre Haut leichengrau.
Und dann hatte er sie entdeckt. Die erste Wunde an seinem eigenen Fleisch. Herodes hatte seinen Leibärzten befohlen, sie herauszuschneiden, doch an ihrer Stelle waren zwei weitere erschienen. Dann zehn weitere – jede einzelne nässend und stinkend, und jede sog das Pigment aus der sie umgebenden Haut, bis sein ganzer Leib grau und verdorrt war. Bis ihm die Zähne im Mund verfaulten und sein Appetit verschwand. Seine Leibärzte diagnostizierten Lepra, auch wenn sie zugeben mussten, dass ihnen diese Spielart noch nie untergekommen war.
Ein König. Ein Erbauer großer Städte … zugrunde gerichtet von einer jämmerlichen Bettlerkrankheit.
Nein, Herodes konnte nicht mehr vor das Volk treten, doch er konnte es immer noch führen. Es bedurfte einer gewissen Täuschung, einer gewissen Illusion. Doch er
Weitere Kostenlose Bücher