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Die Nachhut

Die Nachhut

Titel: Die Nachhut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Waal
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den anderen wurde mir das zu schwer und ich ließ sie sinken. Spätestens da musste Fritz aufgefallen sein, dass ich seine Tasche immer noch trug, und meine Angst verflog. Er sah drüber hinweg. Er wollte, dass ich sie behielt. Mir würde nichts passieren, dachte ich. Alles andere ergab keinen Sinn.
    Wir trafen den Rest der Mannschaft im Speiseraum. Otto hielt Jenny eine Pistole an den Kopf, die jedoch weiter plapperte, als sei das nur Spaß, allenfalls ein Missverständnis. Busch dagegen stand mit dem Rücken zur Wand und nahm die Maschinenpistole weitaus ernster, mit der Konrad ihm drohte.
    »So verstehen Sie doch«, sagte Jenny und es klang, als wäre ihr wirklich mehr an Ottos Verständnis gelegen als an ihrem Leben, »der Krieg ist vorbei, schon lange, verloren ...«
    »Hören Sie auf«, kreischte Otto, »hören Sie sofort auf damit, oder ich muss Sie auf der Stelle erschießen!«
    »Das würde auch nichts ändern: Ihr habt den Krieg begonnen und ihr habt ihn auf der ganzen Linie ...«
    »Ha«, frohlockte Otto, »allein das beweist Ihre Impertinenz: Wer hat denn angefangen? Polen hat uns überfallen! Und wer hat wem den Krieg erklärt? Die Westmächte uns! Also halten Sie gefälligst ihr dummes Mundwerk!«
    Jenny schüttelte fassungslos den Kopf und suchte mit den Augen Hilfe. Weil von uns nicht viel zu erwarten war, fiel sie Otto plötzlich selbst in den Arm. Der Bolzen klickte laut aber leer auf Metall. Seine Waffe war nicht geladen. Aber er hatte tatsächlich abgedrückt. Die Erschütterung darüber teilten sogar seine Kameraden. Vor allem Fritz und Konrad schienen zunächst wie gelähmt und regelrecht erleichtert über Ottos nächsten Befehl: Sie sollten uns nach oben bringen, erschießen und alle Spuren beseitigen. »Aus meinen Augen!« brüllte er, als hätte er noch alle beide.
    Wir beeilten uns nicht gerade, aber trotzdem kam mir der Weg hinauf viel zu kurz vor. So ähnlich muss es ihnen die ganzen Jahre gegangen sein: Beinahe reizvoll schien das Leben unter der Erde, wenn oben der Tod wartet.
    Jenny probierte es auf der Treppe noch einmal bei Konrad, den wir alle für den Umgänglichsten hielten. Ich suchte Blickkontakt mit Fritz. Sogar Busch hatte seine Sprache wiedergefunden, aber verbat sich lediglich das Geschubse, mit dem Stahl ihn vor sich hertrieb. Als wir uns alle aus der Luke gezwängt hatten, hob Stahl seine Waffe und schoss eine Salve in den Nachthimmel. Wir wagten nicht, uns zu rühren, bis er den nächsten Feuerstoß in die Äste über uns jagte. Da begriffen wir endlich und rannten los. Busch drehte sich nicht mal mehr nach seinem Wagen um. Ich lief neben Jenny und half ihr wieder auf die Beine, nachdem wir uns anlässlich der dritten Salve noch einmal ins Moos geworfen hatten. Etwa eine Viertelstunde hetzten und stolperten wir voran. Dann ging uns die Puste aus.
    Keiner sprach ein Wort. Mit der Kamera wechselten wir uns ab. Nur die Bänder gab Busch nicht aus der Hand. Jenny bestimmte die Richtung, die sie ungefähr für die richtige hielt, und sah ansonsten zu Boden, als sei alles ihre Schuld. Aber das war es nicht. Irgendwann hätten wir die alten Knaben so oder so mit der Wahrheit konfrontieren müssen.
    »Was soll das denn sein«, fragte Busch, als er bei einer Kameraübergabe meine Aktentasche entdeckte.
    Ich hielt ihm das Schnappschloss so dicht vor die Nase, dass der Hakenkreuzadler im schwachen Mondschein glänzte und mein Chef erschrocken die Augen aufriss.
    »Die Ordonnanztasche des Führers«, sagte ich feierlich.
    Es sollte ein Scherz sein. Gerd Busch aber starrte versteinert darauf, keuchte schwer, und nie im Leben hätte ich gedacht, dass bei einem abgebrühten Kerl wie ihm ein blödes Hakenkreuz solche Reaktionen auslösen könnte. Ich meine: Eben standen wir noch vor einem Erschießungskommando und hatten seit Stunden mit zweifellos echten Faschisten zu tun. In ihrem Bunker wimmelte es nur so von dem Zeug, Busch hatte alles kaltblütig gefilmt. Und nun sah er mich plötzlich an, als hätte ihm der Teufel persönlich seinen Führerschein gezeigt.
    Sicher: Ottos Auftritt war ein Schock gewesen, auch wenn es bei mir schon wieder ging. Es mochte an Fritz gelegen haben, an meinem ohnehin hohen Adrenalinspiegel seit dem frühen Morgen im Pfarrhaus, überhaupt - fand ich - hatte ich den ganzen Tag über eine ziemlich coole Vorstellung gegeben.
    Gerd dagegen war auf einmal völlig aus dem Gleichgewicht geraten und es fehlte nicht viel, dann hätte ich ihn tröstend in den Arm

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