Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Abend
zuvor, und das liegt nicht nur an der Arbeitskleidung, dem krummen Rücken, den schmutzigen
Händen.
»Es wird bestimmt alles gut.« Sydney kann sich diese abgegriffene Wendung
nicht verkneifen. Sie wünscht diesem Mann plötzlich, dass er sich nicht um seine
Tochter zu sorgen braucht.
Sie steht auf. Während ihres Gespräch ist das Zwielicht dem Abend gewichen.
Eine Mücke sticht sie in den Fuß. Sie hört die Laubfrösche, die ewige Brandung.
Im Haus geht ein Licht an. »Tja«, sagt sie. »Ich geh dann mal rein.«
Mr. Edwards steht ebenfalls auf, bemüht sich ganz bewusst, seinen Rücken
aufzurichten. »Vielen Dank, Sydney«, sagt er. »Ich weiß es zu schätzen, dass Sie
zu mir gekommen sind.«
Seine Förmlichkeit ist beunruhigend.
Sydney wendet sich ab. Als sie sich in der Tür zum Haus noch einmal umblickt,
sieht sie, dass Mr. Edwards sich nicht von der Stelle gerührt hat.
Mrs. Edwards liegt im Bademantel auf einem der weißen Sofas. Sie
lächelt mechanisch, als sie Sydney bemerkt. In der Küche kann Sydney Wendy und Art
auf der Suche nach etwas zu essen in den Schränken und im Kühlschrank kramen hören.
Ihre Worte kann sie nicht verstehen, aber der Ton ist eindeutig zänkisch. Sie vermutet,
es hat ihnen die Laune verdorben, dass keine Mahlzeit auf sie wartet. Mrs. Edwards
jedoch scheint sich nicht die geringsten Gedanken um ihre Gäste zu machen, während
sie die Seiten des Romans umblättert, den sie liest.
»Wo ist Julie?«, fragt Sydney.
»Sie war vorhin mal unten, um sich einen Toast zu machen«, antwortet
sie, ohne von ihrem Buch aufzublicken. »Sie hat sich irgendein Virus geholt.«
»Aber es geht ihr nicht schlecht?«, fragt Sydney, die feststellt, dass
Mrs. Edwards’ Fußsohlen eindeutig nicht sauber sind.
»Nein, nein, es ist nichts Schlimmes.«
Sydney nickt. Sie ist auch hungrig, aber sie beschließt, in ihr Zimmer
hinaufzugehen und zu warten, bis die dicke Luft sich verzogen hat. Gerade als sie
ihren Fuß auf die unterste Treppenstufe setzt, läutet das Telefon. Die eben noch
ruhende Mrs. Edwards springt auf wie von der Tarantel gestochen, obwohl kein Mensch
den geringsten Versuch unternimmt, ihr das Telefon streitig zu machen.
Sie lächelt wie auf Knopfdruck. Ihr Blick wird abwesend, sie sieht nur
die Person am anderen Ende der Leitung. Sie lacht, stellt eine Frage, scheint nur
ungern Schluss machen zu wollen. Sie besitzt ein bemerkenswertes Talent, ein Gespräch
in die Länge zu ziehen. Sydney tut so, als untersuchte sie eine Schwiele an ihrem
Fuß. Bis bald , hört sie die Dame des Hauses flöten. Mrs. Edwards
wartet noch eine Sekunde, für den Fall, dass ihr Gesprächspartner doch noch etwas
zu sagen hat, dann legt sie schließlich auf und zieht den Gürtel ihres Bademantels
fester. Sie blickt zu Sydney hinüber.
»Das war Jeff«, berichtet sie höchst befriedigt. »Er ist gut nach Hause
gekommen.«
AUF DEM GRUNDSTÜCK hinter dem
Reihenhaus in Troy alter Bewuchs. Flieder, Funkie, Walnuss. Veilchen, Maulbeere,
Hortensie. Alles verwahrlost und verwildert, nichts geschnitten oder gepflegt. Sydneys
Mutter stellte immer Milchflaschen mit den ersten Rosen der Jahreszeit auf das Fensterbrett
in der Küche – alte rosafarbene Apfelrosen mit flach ausgebreiteten Blütenblättern
und kurzen starken Dornen.
Eine rote Karotapete über dem Spülbecken. Gelbe Vorhänge an den Fenstern.
Was ist eigentlich aus der ockerfarbenen Bakelituhr mit der ausgefransten Schnur
geworden? Sydney erinnert sich an den braunen Norge-Kühlschrank; an den Tag, an
dem ihre Mutter die Waschmaschine und den Trockner installieren ließ. Der Kellerboden
war noch aus Lehm. Eine Woche später trug ihre Mutter einen Korb Wäsche zu der neuen
Maschine hinunter und traf auf eine Ratte von der Größe eines kleinen Hundes. Sie
trieb sie in eine Ecke und schlug sie tot, während Sydney zusah. Ein Akt rasender
Gewalt, nach dem Sydney Stunden sprachlos blieb.
Sydney erinnert sich an bröckelnden Mörtel; an die schmalen Bodendielen
im Flur, ungefirnisst und beinahe schwarz; an das Linoleum in der Küche. Die Wohnung
hatte drei Zimmer, ein Bad und am Ende des Flurs die Küche. In ihrem Zimmer hatte
Sydney ein Bett, einen Schreibtisch und eine Schrankwand. Sie hatte schillernde
violette Gardinen und eine rosa Steppdecke. Sie hatte einen Plastiknachttisch mit
Schubladen, in denen sie ihren Nagellack, ihr Tagebuch, Briefchen von Freundinnen
und die letzten Geburtstagskarten aufbewahrte. Wenn sie jeden Tag nach der
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