Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Schule
die Betontreppe zur Haustür hinaufstieg und in ihr Zimmer ging, hatte sie das Gefühl,
kurz durch die Vergangenheit geschwommen und wohlbehalten in der Gegenwart gelandet
zu sein.
Eines Nachmittags, als sie dreizehn war, fand Sydney die Wohnung bei
der Heimkehr von der Schule ungewohnt aufgeräumt vor. Ihre Mutter erwartete sie
am Küchentisch sitzend. Sie forderte Sydney auf, sich ebenfalls zu setzen.
»Hast du ausgemistet?«, fragte Sydney mit einem Blick zu den leeren Regalen.
»So kann man’s nennen«, antwortete ihre Mutter.
Ihre Mutter teilte ihr mit, dass sie und Sydney aus Troy wegziehen würden,
dass sie von nun an in einem richtigen Haus in Massachusetts leben würden. Ihre
Mutter stellte es so dar, als wäre es ein großer Spaß. Sydney würde zwei Zuhause
haben, wo sie wohnen konnte, zwei Gruppen Freunde, zwei eigene Zimmer. Sie würde
zwischen Massachusetts und New York hin- und herpendeln.
Ihre Mutter sagte nichts davon, dass sie den braunen Norge und die Betonvortreppe
satthatte und es leid war, darauf zu warten, dass ihr Mann sein künstlerisches Versprechen
erfüllte. Sie sagte nichts davon, dass sie einen anderen Mann kennengelernt hatte.
Sie sagte nichts davon, dass sie noch gar nicht mit Sydneys Vater gesprochen hatte.
An dem Abend, nachdem Sydney und ihre Mutter in dem Haus in Massachusetts
mit der Geschirrspülmaschine, der Mikrowelle und dem blitzblanken neuen Waschraum
eingezogen waren, klingelte das Telefon. Sydney nahm ab und lauschte. Ihr Vater
weinte.
Wenn Sydney heute an ihre Eltern denkt, hat sie dieses Bild: Eine Grenze
verläuft von Manhattan aufwärts; zu beiden Seiten ist alles leer bis auf zwei Strichmännchen,
das eine auf der linken, das andere auf der rechten Seite.
Am Montagmorgen fährt Sydney nach Portsmouth und kommt mit den Zeichensachen
wieder nach Hause: eine Staffelei, ein Skizzenblock, Zeichenstifte, Ölfarben und
zwei Bücher, eines über das Zeichnen, das andere über das Malen. Mr. Edwards will
ihr Geld dafür geben, aber Sydney erklärt ihm, dass das ihr Experiment sei.
Später an diesem Abend sieht sie Mr. Edwards in Julies Zimmer gehen.
Als er mit geröteten Augen wieder herauskommt, kramt er in seiner Hosentasche nach
seinem Taschentuch. Sydney fällt auf, dass er Julie aufgesucht hat, während Mrs. Edwards
auf einer Cocktailparty war. Mr. Edwards war auch eingeladen gewesen, aber er hat
sich wegen angeblicher Magenschmerzen entschuldigen lassen.
Die Woche vergeht. Aus Nordosten zieht ein Sturm auf. Regen peitscht
an die Fenster. Wenn man zum Auto will, wird man mit solcher Gewalt vorwärtsgetrieben,
dass man über die eigenen Füße stolpert. Es regnet tagelang. Sydney vergisst, wie
der Strand bei Sonnenschein ausgesehen hat. Es ist, als hätte es immer geregnet,
als wäre das ihr Schicksal.
Sydney verbringt Stunden in Julies Zimmer. Manchmal übt sie Mathematik
mit dem jungen Mädchen, aber meistens schaut sie Julie dabei zu, wie sie Gegenstände
gruppiert und sie dann zeichnet. Sie kann nicht verstehen, dass keiner der Eltern
die Begabung der Tochter erkannt hat. Vielleicht glaubten sie angesichts des sich
zeigenden Defizits, es wäre nichts zu erwarten. Aber hat es keine Kinderzeichnungen
gegeben? Malbilder, die Julie aus der Grundschule mit nach Hause gebracht hat?
Julie hat eine Vorliebe für Birnen. Sydney sieht dahinter mehr als den
Zufall, dass auf der Arbeitsplatte gerade eine Schale Birnen stand, als sie Julie
die Zeichenutensilien schenkte. Sydney ist selbst fasziniert von der Form dieser
Frucht, dem dicken bauchigen Unterteil, dem ungleichgewichtigen Stand, den glatten
Flächen der Schale, lauter Dinge, die ihr früher nie aufgefallen sind.
Julie ordnet die Birnen in Beziehung zueinander auf dem Toilettentisch
an, auf dem vorher ihre Haargummis und ihr Schmuck lagen. Sie nimmt die Zeichenaufgaben
mit der gleichen intensiven Konzentration in Angriff, die sie tausendteiligen Puzzles
entgegenbringt.
Hin und wieder ertappt sich Sydney bei einem Gedanken an Jeff. Sie stellt
ihn sich in einem stickigen Büro in einem unansehnlichen Gebäude beim MIT vor. Sie
versucht zu erraten, was er bei der Arbeit trägt. Ein korrektes Hemd und eine Khakihose?
Shorts, wenn er nicht im Seminarraum stehen muss? Verlässt er mittags seinen Schreibtisch,
um etwas essen zu gehen? Geht er zu Fuß, mit einem abgewetzten Leinenrucksack über
der Schulter, durch die regennassen Straßen von Cambridge zu seiner Wohnung? Und
was tut er, wenn er heimkommt?
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