Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Wirft er sich in einen Sessel, schaut sich die Red
Sox an und trinkt ein Rolling Rock? Klingelt das Telefon, Victoria an der Leitung?
Hat Vicki vielleicht Pläne für den Abend?
Gegen Ende der ersten Woche holt Sydney die Malfarben heraus. Während
Julie zeichnet, hat Sydney die Bücher über Zeichnen und Malen gelesen. Sie hat noch
einmal nach Portsmouth fahren müssen, um Materialien zu besorgen, von denen sie
nicht wusste, dass sie gebraucht würden. Terpentin, Leinöl, Transparentpapier. Sydney
erklärt Julie so gut sie kann, was es heißt, mit Öl zu malen – dass die Leinwand
eine Grundierung braucht, dass man zuerst den Hintergrund malt, dass man Geduld
braucht, während die Farbe trocknet. Sydney plappert die Anleitungen aus dem Buch
nach wie ein Papagei.
Julie zeichnet drei Birnen auf die Leinwand. Sydney entdeckt, dass die
Form der Birnen ganz und gar sexuell gesehen werden kann, das ist ihr bisher nie
aufgefallen. Sie kann nicht sagen, an welchen Teil der Anatomie sie erinnert, ob
männlich oder weiblich, aber die Assoziationen sind klar. Liegt darin vielleicht
der besondere Reiz der Birne für Julie? Und wenn ja, ist Julie sich dessen bewusst?
Julie ist zaghaft mit den Farben, und die Ergebnisse ihrer Bemühungen
sind bescheiden. Geduld zu üben jedoch bereitet ihr keine Schwierigkeiten. Julie
ist geduldig wie ein Mönch beim Illuminieren einer alten Handschrift. Sydney beobachtet
sie, während sie Ocker auf einen grünen Hintergrund aufträgt, dann geht Sydney hinaus,
um zu Mittag zu essen. Sie geht ins Freie und macht einen Spaziergang im Regen.
Als sie drei Stunden später zurückkommt und Julies Zimmer betritt, arbeitet das
junge Mädchen immer noch an derselben Stelle auf der Leinwand wie zu dem Zeitpunkt,
als Sydney gegangen ist.
Julie scheint Sydney gar nicht wahrzunehmen. Sie isst nicht, wenn Sydney
ihr nicht ein Sandwich hinstellt und sie anstupst. Julie ist in einer anderen Welt,
in der Sydney nie gewesen ist. Vielleicht, überlegt Sydney, ist Julie in der Schule
nicht mitgekommen, weil zu viel auf einmal von ihr verlangt wurde. Vielleicht braucht
sie die Möglichkeit, wochenlang an einer Sache arbeiten zu dürfen. Das wäre, denkt
sich Sydney, während sie Julie zusieht, eine vernünftige Unterrichtsstrategie.
Mrs. Edwards ist nicht begeistert.
»Das ist ja alles schön und gut mit der Malerei, aber was ist mit der
Aufnahmeprüfung? Ich habe ausdrücklich gesagt, Julie muss jeden Tag zwei Stunden
Mathematik machen.«
Später hört Sydney Mrs. Edwards in einer Diskussion mit ihrem Mann,
die Worte sind nicht zu verstehen, aber der Ton ist unmissverständlich. Mr. Edwards
nimmt alle Schuld auf sich. Er kann nicht rausgeschmissen werden.
Sydney nimmt sich vor, niemals einen Satz mit den Worten Ich habe ausdrücklich gesagt anzufangen.
Die Tage vergehen. Die zwei Wochen scheinen endlos. Man erfährt durch
den Boston Globe , dass das Wetter miserabel bleiben soll.
Das nächste Sturmtief zieht bereits die Küste herauf.
»Herrgott noch mal«, sagt Mrs. Edwards.
Eines Abends sind Mutter, Vater und Tochter bei Freunden zum Essen eingeladen.
Auch Sydney hat eine Einladung erhalten, lehnt aber ab unter Hinweis auf das »Magen-Darm-Virus,
das umgeht«. Mr. Edwards wirft ihr einen sonderbaren Blick zu.
»Nun ja, wenn Sie Hunger bekommen«, sagt Mrs. Edwards, »im Kühlschrank
sind Krabben.«
»Oh, reden Sie nicht vom Essen«, ruft Sydney und drückt eine Hand auf
den Magen.
Sobald sie weg sind, unternimmt Sydney in aller Gemächlichkeit einen
Rundgang durchs Haus. Sie besichtigt Räume, in die sie nie gebeten worden ist. Ihr
scheint das notwendig, wenn sie die Familie verstehen will, bei der sie lebt. Vielleicht
ist sie aber auch einfach nur neugierig.
Im zweiten Stockwerk ist ein langer Flur mit vielen Zimmern. Sydney geht
zuerst ins sogenannte Jungszimmer. Drei Betten stehen darin, zwei auf der einen
Seite vom Fenster, eines auf der anderen. Das Bettzeug ist aus einem grün karierten
Stoff aus einer Zeit, die sie, meint Sydney, nicht erlebt hat. Auf dem Boden liegen
ein Bogen Packpapier und eine Rolle Klebeband. Baseballcaps – die meisten mit dem
Red-Sox-Logo, eines von einer Privatschule westlich von Boston – hängen an den Bettpfosten.
Sydney stellt sich Jeff, Victoria und Ben hier vor, in drei gleichen Betten, wie
die Kinder. Es würde sie interessieren, welches Jeffs Bett ist.
Gästezimmer stehen leer und warten. Crewel-Stickereien schmücken die
Wände. Jemand hat versucht, die
Weitere Kostenlose Bücher