Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
des Monats. Vielleicht bleibe ich bis nach dem Labor Day.
Ich soll Julie bei der Vorbereitung auf die Zulassungsprüfungen im Oktober helfen.
Es kann also sein, dass ich zu ihr nach Hause kommen muss, wenn die Schule wieder
angefangen hat.«
Sydney erfindet sich das alles zusammen. In Wirklichkeit hat kein Mensch
je mit ihr darüber gesprochen, wie lange sie bleiben soll und ob sie später nach
Needham kommen soll oder nicht.
»Die Familie bleibt nie länger als bis zum Labor Day«, erklärte Victoria
bestimmt. »Nie.«
Sydney nimmt die Mitteilung zur Kenntnis.
»Jeff arbeitet so viel, er braucht seine Ruhe«, sagt Victoria unvermittelt.
Aber vielleicht ist es gar nicht unvermittelt. Es kann ja sein, dass Victoria die
ganze Zeit an Jeff denkt, selbst wenn es nicht den Anschein hat. »Ich lasse ihn
bis elf schlafen, dann wecke ich ihn. Ich glaube, wir fahren zum Lunch nach Portsmouth.«
Victoria wirft von der Seite einen Blick auf Sydney, nicht sicher, ob sie ihr gegenüber,
die vielleicht gar nicht eingeladen wurde, den Ausflug hätte erwähnen sollen. »Anna
ist beim Joggen«, fügt sie hinzu, gleichermaßen unvermittelt, wie es scheint.
Sydney denkt über den Anblick einer joggenden Mrs. Edwards nach.
»Ihre Arbeit ist sicher sehr befriedigend«, sagt Sydney, beide Hände
um ihren Kaffeebecher schließend. Sie ist sich in Victorias Gegenwart peinlich der
Tatsache bewusst, dass sie weder geduscht noch sich die Zähne geputzt hat. Beim
Frühstück mit Ben und Jeff hat ihr das merkwürdigerweise überhaupt nichts ausgemacht.
Sie sieht Victoria zu, wie sie ihren armen Ritter mit der Gabel zerteilt und dabei
über den elfenbeinfarbenen Teller kratzt. Warme Beeren quellen aus der Brioche,
und Sydney wünscht, sie hätte Victorias Angebot angenommen.
»Na ja«, meint Victoria, »es ist wie bei allem anderen. Es gibt Enttäuschungen,
und es gibt Erfolge. Ich habe eine Menge dazugelernt.«
»Und was genau tun Sie?«
»Ich bin für die Koordination von Benefizveranstaltungen zuständig.«
Ja. Das kann Sydney sich vorstellen – Victoria als Organisatorin von
festlichen Veranstaltungen im .406 Club zum Wohl von Kindern, die an Leukämie leiden.
Sie hat Jeff ganz und gar verdient, trotz ihrer verdächtigen Schönheit. Sie lässt
ihn ausschlafen, sie ist nicht überspannt, sie leistet gute Arbeit, sie kann kochen.
»Ich weiß nie, wer alles hier sein wird«, bemerkt Victoria, während sie
eine Erdbeere aufspießt. Sydney fragt sich, ob sie das als kleine Spitze gegen sich
auffassen soll.
»Was gibt’s in Portsmouth an einem Sonntag?«, fragt sie.
Victoria reißt kurz die Augen auf, hat sich aber gleich wieder im Griff.
»Ein tolles Fischrestaurant«, antwortet sie. »Es gefällt Ihnen bestimmt.«
Sydney möchte nur schlafen. Sie hat überhaupt keine Lust auf irgendwelche
Interaktionen mit Jeff, Ben, Mrs. Edwards oder auch Julie. Sie fühlt sich ausgelaugt – zu stark involviert, die Familie kommt ihr zu nahe –, das ist ihr ungemütlich.
Sie wünscht sich fort, allein.
Sie schläft bis vier Uhr, bleibt dann noch einige Augenblicke liegen
und lauscht den Verabschiedungen in der vorderen Diele. Ben, Jeff und Victoria,
die nach Boston abreisen, bekommen Anweisungen, was sie mitbringen sollen, wenn
sie in zwei Wochen wiederkommen, bevorstehende gesellschaftliche Ereignisse werden
erwähnt (vermutlich muss man sich mit der Kleidung darauf einrichten), Versprechen,
bald wiederzukommen, werden gegeben. Sydney hört die Fliegengittertür hinter ihnen
zufallen.
Sofort wird es still im Haus, zumal Mr. und Mrs. Edwards sich ohne ein
Wort in verschiedene Zimmer zurückziehen. Wendy und Art erwartet ein kühler Empfang,
wenn sie zurückkommen, wo immer sie auch gewesen sein mögen – Appledore? Portsmouth? –, vielleicht nicht einmal eine Mahlzeit. Erschöpfung im Verein mit dem Gefühl,
nun allen sozialen Verpflichtungen Genüge getan zu haben, wird vielleicht für einen
etwas beschwerlichen Abend mit den Gastgebern sorgen. Haben diese Gastgeber, fragt
sich Sydney, inzwischen auch nur den Schimmer einer Ahnung davon, was ihrer einzigen
Tochter am Abend zuvor möglicherweise zugestoßen ist?
Sydney geht vorsichtig die Treppe hinunter, sie möchte keinem begegnen,
der höher entwickelt ist als Tullus. Die letzten Tage waren zu viel: Julies Trunkenheit;
die Suchaktion mit Jeff; das ständige Herumlavieren um Ben und Victoria. Sydney
ist hungrig, braucht ein Stück Käse, eine Handvoll Nüsse, aber eine ganze
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