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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Mahlzeit
herzurichten scheint unnötig förmlich, ein Beharren auf einem Ritual, wo auf ein
Ritual eindeutig verzichtet werden sollte.
    Scharfes, orangefarbenes Licht fällt durch das Küchenfenster und ruft
sie hinaus. Sie überlegt, wie sie von der Küche im hinteren Teil des Hauses zum
Strand vor dem Haus kommen soll, ohne jemandem von der Edwards-Familie in die Arme
zu laufen. Sie entscheidet sich für den direkten Weg und marschiert barfuß von hinten
nach vorn, einen flüchtigen Gruß parat, falls der notwendig werden sollte. Aber
Sydney hat Glück. In der Diele ist niemand, auch das Wohnzimmer und sogar die Veranda
sind leer. Sie stellt sich Anna Edwards platt auf dem Rücken in ihrem Bett vor,
einen kalten Waschlappen auf der Stirn. Sie stellt sich Mark Edwards auf Knien in
seinem Rosengarten vor, damit beschäftigt, das Unkraut aus der Erde zu reißen, das
aufzumucken gewagt hat, während er anderweitig zu tun hatte. Sie stellt sich Julie
vor, in ihrem Bett zusammengerollt wie ein Embryo, bald schlafend, bald wachend,
bei jedem Erwachen verwirrt, bemüht, die Bilder zu verstehen, die ihr durch den
Sinn ziehen und von denen kaum eines willkommen ist.
    Nach ihrer gelungenen Flucht entfernt sich Sydney flotten Schritts vom
Haus. Das Wasser leuchtet türkisgrün im Licht, und wie so oft wünscht sie sich,
sie könnte den Moment festhalten. Sie weiß aus früherer Erfahrung, dass eine Fotografie
nicht taugt. Sie mag später eine Erinnerung auslösen, aber der Moment selbst – der
Wind auf der Haut unter ihren Ohren, der blaue Dunst am Horizont – dauert eben nur
Sekunden, bevor er erlischt.
    Sydney geht schnell, sie möchte möglichst viel Abstand zwischen sich
und das Haus am Ende des Strands legen. Die Bewegung tut ihr gut, ihre Wadenmuskeln
kribbeln. Sie beginnt zu laufen. Sie ist eigentlich keine Läuferin, strammes Gehen
mit der Möglichkeit, auf die Umgebung zu achten, ist ihr lieber als Laufen, bei
dem sich die Aufmerksamkeit auf den Körper konzentriert, aber das Verlangen zu laufen
ist unerwartet stark.
    Die Schutzlosigkeit des Körpers. Die gebräunte Haut der Beine. Sydney
erinnert sich des Eindrucks bei Tisch, dass Jeff in Gedanken ganz woanders sei,
an einem Ort, den sie gern aufgesucht hätte. Sie erinnert sich der Angst, die sie
verbunden hat, als sie durch die Dorfstraßen fuhren, um Julie zu suchen, die vielleicht
in Schwierigkeiten war – eine Schwester, die er liebt, ein junges Mädchen, das Sydney
mag. Und sie erinnert sich der flüchtigen körperlichen Verbundenheit, dieser kurzen
Berührung der Hände, so zufällig scheinbar, dass man sie vergessen könnte. Aber
sie hat einen Brand ausgelöst. Sydney bleibt stehen, sie weiß, dass sie bald umkehren,
zu dem Haus zurückmuss, aus dem sie vor Kurzem erst geflohen ist, und fragt sich,
ob Jeff in diesem Augenblick an sie denkt. Nein, entscheidet sie. Er wird auf dem
Rücksitz des Land Rover sitzen und das Profil seiner zukünftigen Verlobten betrachten,
die rechts vor ihm neben Ben sitzt und sich mit diesem unterhält.
    Der Verkehr ist ja fürchterlich , wird Victoria
sagen. Ich muss morgen schon um fünf aufstehen.
    Zurück beim Haus geht Sydney direkt in den Garten. Mr. Edwards,
in gebückter Haltung, ist dabei, die welken Rosenblüten zu schneiden. Er ist so
vertieft in seine Arbeit, dass er erst auf sie aufmerksam wird, als sie ihn anspricht.
    »Hallo«, sagt sie.
    Aufgeschreckt fährt er in die Höhe und drückt sich eine Hand ins Kreuz.
Er hat ein altes Flanellhemd an und eine Khakihose mit Flecken auf den Knien. »Oh,
hallo«, antwortet er.
    Die Rosen sind prachtvoll: rostfarben, lavendel, mauve und creme. Kein
gewöhnliches Scharlachrot, kein lautes Gelb. Sie hat Julie und Mr. Edwards oft
im Garten arbeiten sehen, aber sie war selbst noch nie hier. In der Mitte des Gartens
steht eine Steinbank.
    »Die sind ja wunderbar«, sagt Sydney und beugt sich hinunter, um an einer
Blüte von blassem Lachsrosa zu riechen.
    »Danke. Manchmal machen sie einfach, was sie wollen.«
    »Ich habe Julie auch oft hier bei der Arbeit gesehen.«
    »Ja, es scheint ihr Spaß zu machen.«
    Mr. Edwards weiß, dass sie mit ihm reden möchte, das spürt Sydney. Er
weiß, dass sie nicht nur einen Abstecher in den Garten gemacht hat, weil sie zufällig
gerade vorbeigekommen ist. Die Gartenschere in der Hand, wartet er geduldig.
    »Um ehrlich zu sein«, sagt sie, während sie leicht über eine andere Blüte
streicht, »ich mache mir ein wenig Sorgen um

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