Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Eltern hatte sie Glück, fand
Sydney. Da sich die gesammelte Aufmerksamkeit auf die offenkundig bis über beide
Ohren verliebte Julie und die zierliche Kanadierin richtete, entgingen Jeff und
Sydney genauerer Prüfung. Sie übernahmen die Rolle der Vermittler, indem sie sich
zwischen die Edwards auf der einen und ihre Tochter und deren Liebhaberin auf der
anderen Seite setzten. Hin und wieder fungierte Sydney außerdem als Dolmetscherin.
»Ich glaube, Julie möchte damit sagen, dass sie meint, sie sei alt genug
für selbstständige Entscheidungen«, erklärte Sydney.
Am nächsten Tag brachen Julie und Hélène, von Versicherungen Mr. Edwards’
begleitet, dass er und seine Frau sie besuchen würden (»ich wollte Montreal schon
immer mal wiedersehen«), nach Norden auf, während Sydney und Jeff in südlicher Richtung
nach Cambridge fuhren. Erinnerungswürdig machte diese Abschiedsszene die erstaunliche
Tatsache, dass Mrs. Edwards sich bei Sydney dafür bedankte – wenn auch ohne Umarmung –, dass sie Julie nach Hause geholt hatte. Nicht ein Wort über die Stunden der Anleitung
und Fürsorge, nicht ein Wort über die erfreuliche Entdeckung von Julies Begabung,
auch wenn die sich, dachte Sydney, wahrscheinlich irgendwann von selbst Bahn gebrochen
hätte. Die Birnen in Montreal waren eindrucksvoll gewesen.
Jeffs Wohnung war die eines allein lebenden Junggesellen, der gut
verdiente, aber sein Geld lieber für anderes als Inneneinrichtung ausgab. Sie war
frisch renoviert und bot durch eine Lücke zwischen zwei Häusern direkt am Charles
River einen schmalen Blick auf glitzerndes Wasser. Ein Ledersofa und zwei schöne
Lampen waren vielleicht in dem anfänglichen Bestreben ausgesucht worden, aus dem
großen Wohnzimmer mit dem Erkerfenster und der Aussicht etwas zu machen. Aber dieses
flüchtige ästhetische Bemühen war entweder von Arbeit oder von Gleichgültigkeit
verdrängt worden, denn der Couchtisch stammte aus einer völlig anderen Periode und
war noch dazu voller Schrammen (aus Needham mitgenommen vielleicht?). Sonst war
der Raum karg, auf eine typisch männliche Art, fand Sydney.
Victoria hatte offensichtlich nicht mit Jeff zusammengelebt, auch wenn
Sydney in einem Wandschrank in der Diele ein Paar Krokostiefel Größe achtunddreißig
entdeckte und ganz hinten in einer sonst leeren Schublade (wahrscheinlich Vickis
Schublade) zusammengerollt Designerjeans, die Sydney in einem schwachen Moment anprobierte.
Sie passten um die Hüfte, warfen aber an den Knöcheln Falten. Sie rollte sie wieder
zusammen und schob sie an ihren Platz zurück. Wenn sie bei Jeff übernachtete, mied
sie die Schublade und benutzte ihren Koffer als eine Art Kommode.
Jeffs Wohnung war vielleicht etwas lieblos eingerichtet, aber sie war
groß und geräumig, ganz im Gegensatz zu Sydneys engem Einzimmerapartment in Waltham,
von dem man auf eine RadioShack-Filiale hinuntersah. Als sie ihre Wohnung zum ersten
Mal seit Monaten wieder betrat, verstand sie sofort, warum das Angebot eines Sommers
am Meer sie gelockt hatte. Die Möbel waren in Ordnung (sie und Daniel hatten gemeinsam
einige schöne Stücke gekauft), aber es war eine Atmosphäre, als hätte hier nie ein
Mensch gelebt. Als sie das Apartment gemietet hatte, hatte sie kein Interesse daran
gehabt, sich ein Zuhause zu schaffen. Sie hatte lediglich Schutz gesucht.
Im Herbst wurde Sydney für das Frühjahrssemester an der Graduate School
der Universität von Boston angenommen. Ab Januar war sie für den gleichen Studiengang
eingeschrieben wie seinerzeit an der Brandeis-Universität, ihr wurden allerdings
nur wenige Scheine angerechnet. Sie fuhr oft über den Charles River zu Jeff, war
manchmal, da er nicht ganz regelmäßige Arbeitszeiten hatte, schon vor ihm da. Abends
tranken sie Wein (viel Wein, fand Sydney etwas beunruhigt), und sie kochte, oder
sie trafen sich in einem Restaurant in der Nähe mit dem einen oder anderen Freund
von Jeff. Ivers, Sportreporter beim Boston Globe , verfügte
über mehr Insiderinformationen über die Boston Red Sox als sonst jemand, dem Sydney
begegnet war. Frank, früher einmal Jeffs rastloser Kollege am MIT, war jetzt arbeitslos
und versuchte sich als Schriftsteller. Sahir, ein alter Zimmergenosse aus dem College,
der bei einer Bank in der Stadtmitte arbeitete, erhielt bisweilen Anrufe aus exotischen
Gegenden der Welt. Er sprach Urdu und betonte im Gespräch immer wieder ein bestimmtes
Wort, das wie ein Niesen klang: Atschaa . Schmächtig
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