Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
gebaut,
moslemischen Glaubens und auf den ersten Blick als Pakistani zu erkennen, war er
seit dem 11. September
zweimal von der Bostoner Polizei festgehalten und einmal aus einer Bar gejagt worden.
Aber er schien sich mit diesen Schikanen abgefunden zu haben, als wären sie einfach
eine Last, die er zu tragen hatte. Und schließlich war da noch Peter, der den gesamten
Dialog aus der Komödie Alles Routine wörtlich hersagen
konnte. Abende mit Peter, der am Teilchenbeschleuniger des MIT arbeitete, waren
unterhaltsam und witzig. Keiner von Jeffs Freunden war verheiratet. Keiner schien
sonderlich bestürzt über Victorias Ablösung durch Sydney.
Einmal im Monat flogen Sydney und Jeff nach Montreal, um Julie zu besuchen,
der es allem Anschein nach glänzend ging. Im Frühsommer zeigte sie bei einer Gruppenausstellung
im Rahmen einer Kunsthandwerksmesse eines ihrer Bilder. Es war offenkundig, dass
Julie großes Talent hatte und es weit bringen würde, und Sydney war überzeugt, das
Gemälde würde innerhalb von Minuten verkauft sein. (Falsch, es wurde nicht verkauft,
und Julie schenkte es Sydney. Fünf Birnen in einer blauen Delfter Schale, im Vordergrund
auf dem Tisch eine angeschnittene Zitrone. Der Saft der Zitrone wirkte so echt,
dass man ihn am liebsten aufgeleckt hätte.)
Ben habe sie zweimal besucht, erzählte Julie freimütig, vielleicht weil
sie keine Ahnung von dem Bruch zwischen den Brüdern hatte, obwohl sie sich eigentlich
Gedanken hätte machen müssen, als Ben zur Enttäuschung seiner Eltern nicht zum Thanksgiving-Essen
gekommen war. Es hatte auch Sydney bekümmert, die daraufhin die Hoffnung auf ein
Gespräch mit Ben und eine mögliche Aussöhnung der Brüder aufgeben musste. Sie überlegte,
ob Ben gekommen wäre, wenn sie nicht da gewesen wäre, aber Jeff, der bei der Erwähnung
von Bens Namen stets verstummt, glaubte das nicht. Er sei ja derjenige, dem Ben
böse sei.
Weihnachten unternahm Ben eine Kreuzfahrt.
Sydney konnte Jeff nicht dazu bringen, darüber zu sprechen, wie sehr
das Zerwürfnis ihn quälte, wie wütend es ihn machte. Aber sie bemerkte den Schatten
der Furcht, der jedes Mal, wenn er in Boston ein Restaurant betrat, über sein Gesicht
flog, und den hastigen Blick, mit dem er sich umschaute. Nicht ein einziges Mal,
seit sie und Jeff sich kennengelernt hatten, waren sie in Bostons Hafenviertel,
im North End oder im Bankenviertel gewesen, alles Teile der Stadt, in denen sie
Ben hätten begegnen können.
Sydney war fasziniert, als sie bei ihrem ersten Besuch in Needham
die Familienvilla kennenlernte und einige von Mr. Edwards’ Arbeiten besichtigen
durfte. Jeffs Vater schien sich über Sydneys Interesse zu freuen. Es hatte schon
eine ganze Weile niemand mehr nach den gerahmten Bauzeichnungen gefragt, die hier
und dort an den Wänden hingen, größtenteils jedoch bescheiden in Mr. Edwards’ Arbeitszimmer
verwahrt blieben.
Die Villa war ein weiß verputztes Gebäude im Kolonialstil, das auf einer
Anhöhe stand, großzügig geschnitten mit vielen Räumen, zu groß für den Garten, wie
alle Häuser in der Straße. Sie war in den Neunzehnhundertdreißigern erbaut worden
und hatte viele schöne Details: neben der Küche einen langen Anrichteraum mit Glasschränken
auf beiden Seiten; Bogentüren zu allen Wohnräumen; einen abgelegenen Alkoven, in
dem man auf einem zweisitzigen Sofa lesen konnte; und große Veranden vorn und hinten,
beide verglast und mit Fliegengittern geschützt. Zum Abendessen setzte man sich
an einen hochglänzend polierten Hepplewhite-Tisch, ein Erbstück aus Anna Edwards’
Familie, die Sydneys Eindruck nach das Geld hatte. Bei den Mahlzeiten, die Mrs. Edwards
mit großer Sorgfalt selbst zubereitete, ging es förmlich zu. Sydney wünschte manchmal,
es wäre ein Dienstmädchen da; nach der Zubereitung des Essens war Mrs. Edwards
bei Tisch immer angespannt und gereizt.
Tatsächlich wirkte sie zunehmend mitgenommen, als hätten die Unbilden
des Familienlebens sie gründlich gebeutelt.
Julie kam immer mit Hélène, Jeff mit Sydney, und alle, dachte Sydney,
waren ein klein wenig zu sehr darum bemüht, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen.
Wenn sie hin und wieder aufblickte, bemerkte sie, dass Mrs. Edwards sie anstarrte,
als suchte sie, ähnlich wie an einem kürzlich abgestaubten Möbelstück, nach vergessenen
Stellen, nach verräterischen Zeichen jüdischen Bluts.
Mrs. Edwards nannte niemals Sydneys Nachnamen und stellte sie, wenn
eine Bekanntmachung sich nicht vermeiden
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