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Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht am Strand: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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ist, die Schleife absichtlich nicht
genau in der Mitte, die Enden des breiten moosgrünen Tüllbands nicht akkurat abgeschnitten.
    »Setz dich zu mir.« Sydney zeigt auf das Bett. Sie zögert einen Moment
mit dem Öffnen des Päckchens. »Muss ich weinen, wenn ich es sehe?«, fragt sie.
    Julie zuckt lächelnd mit den Schultern.
    Unter dem Seidenpapier liegt ein blaues Taschentuch, es ist aus Quadraten
lauter verschiedener Stoffe zusammengesetzt. Eines fühlt sich wie Oxfordgewebe an,
ein anderes ist aus blassblauer Seide, ein drittes scheint zu einer Krawatte gehört
zu haben. Sydney berührt einen vierten Flicken und lacht. »Ist es das, was ich glaube?«,
fragt sie, während sie ein Stück von Jeffs verwaschener alter Badehose zwischen
den Fingern reibt.
    Julie nickt. »Ich habe sie ihm geklaut. Er sucht sie seit Wochen.«
    »Ja, ich weiß.« Sydney breitet das Taschentuch auf ihren Knien aus. Es
besteht aus neun Quadraten, drei mal drei, mit etwa fünf Zentimeter langen Seiten.
»Du hast das gemacht«, sagt Sydney bewundernd.
    »Ja«, antwortet Julie. »Die blaue Spitze hier ist von der Schärpe, die
zum Hochzeitskleid deiner Großmutter gehört hat. Der Oxford ist von einem von Dads
Hemden. Das Stück Krawatte stammt von deinem Vater.«
    »Sie wussten alle davon?«
    »Jeder hat etwas dazugegeben.« Julie schweigt einen Moment. »Na ja, fast
jeder. Das hier«, sagt sie und tippt auf das Stückchen blassblauer Seide, »ist von
mir, von dem Oberteil, das ich letzten Sommer immer getragen habe. Das Stück Flanell
da stammt von einem alten Nachthemd deiner Mutter.«
    Sydney hält das Tuch an ihr Gesicht. Sie drückt die Nase in das Flanellquadrat
und stellt sich vor, sie würde zurückversetzt an einen der Abende, als sie den Kopf
auf den Schoß ihrer Mutter legte, während diese ihr vorlas, eine Szene, die es in
Wirklichkeit vielleicht nie gegeben hat.
    »Und das hier, mit dem Knüpfbatikmuster, ist von deiner Freundin Emily…«
    »Ich erinnere mich an die Bluse«, sagt Sydney.
    »Das Stück da ist von meiner Großmutter, die du nie kennengelernt hast,
aber ich weiß, sie würde es dir gern schenken. Es ist von einer Tischdecke, die
sie immer aufgelegt hat, wenn wir sonntags bei ihr zum Mittagessen waren.«
    »Die Mutter deiner Mutter?«
    »Nein, meines Vaters.«
    »Und das hier –«, Julie tippt auf das neunte und letzte Quadrat, »– ist
von einer Babydecke, die du als Neugeborenes hattest.«
    Sydney streicht über den Waffelpikee. Jedes Quadrat ist von einem anderen
Blau – Kornblume, Lavendel, Indigo –, alle liebevoll zusammengenäht und mit einer
glyzinienblauen Borte versehen, genau wie man das bei einer Patchworkdecke machen
würde.
    »Ach, Julie, vielen Dank«, ruft Sydney und umarmt das junge Mädchen.
»Ich werde es wie einen Schatz hüten.« Einen Moment lang kann Sydney nicht sprechen.
»Ich wusste gar nicht, dass du so gut nähen kannst«, sagt sie schließlich und greift
nach einem Papiertaschentuch, um sich zu schnäuzen.
    Julie zuckt wieder mit der Schulter, als wäre das Nähen eine Fertigkeit,
die jeder mal so eben erlernen kann.
    »Wie bist du auf die Idee gekommen?«
    »Einfach so«, antwortet Julie, wie immer nicht imstande, etwas über die
Quelle ihrer Kreativität zu sagen.
    Wieder betrachtet Sydney die Stoffquadrate. Sie stellt fest, dass Mrs. Edwards
und Ben nichts zu dem Tüchlein beigesteuert haben.
    Julie lehnt sich an die Kopflehne des Betts und sieht sich im Zimmer
um. »Ist das dein Kleid?«
    »Für morgen, ja.«
    »Es ist schön.«
    »Danke.«
    »Es hat die richtige Farbe zu deinem Teint. Hast du es deshalb genommen?«
    »Mir hat einfach die Farbe gefallen.«
    »Ach, wenn Hélène und ich doch auch heiraten könnten«, sagt Julie sehnsüchtig
und zieht die Knie bis zum Kinn hoch.
    Sydney dreht sich erstaunt zu ihr um. »Du bist noch zu jung.«
    »Ich weiß gar nicht, ob es in Kanada erlaubt ist«, überlegt Julie laut.
    Julie ist neunzehn – alt genug, um zu heiraten, ganz gleich in welchem
Land, vermutet Sydney. Aber davon spricht Julie nicht. »Hast du darüber schon mal
mit Hélène gesprochen?«, fragt Sydney.
    »Wir könnten eine Feier machen«, meint Julie, »und unsere Freunde dazu
einladen.«
    Sydney berührt das Taschentuch.
    »Würdest du kommen?«, fragt Julie.
    »Natürlich würde ich kommen.« Sydney wendet sich ihr zu, sodass sie Julie
direkt ins Gesicht sehen kann. Sie legt das Taschentuch zwischen sich und das junge
Mädchen. »Du hast noch viele Jahre vor

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