Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
Weise beeindruckt, wie es das Haus der Familie
Feldman in Newton nicht konnte.
»Wann bist du angekommen?«, fragt Sydney, als sie sich von ihrer Mutter
löst.
»Vor einer halben Stunde ungefähr. Anna hatte mich gebeten, zeitig zu
kommen. Ich möchte gern helfen…«, sagt sie und schaut sich ratlos um.
»Du siehst hübsch aus«, sagt Sydney.
»Na ja, ich dachte, zum Probeessen könnte ich ruhig Weiß tragen. Du kommst
doch heute Abend nicht in Weiß?«
»Morgen auch nicht.«
»Dann ist es ja gut.« Ihre Mutter streicht sich über die Jacke. »Aber
ich habe nicht damit gerechnet, dass es so heiß sein würde.«
»Heute Abend kühlt es bestimmt ab«, tröstet Sydney sie. »Wir essen auf
der Veranda.«
»Im Ernst?«, ruft ihre Mutter leicht entsetzt. »Bei diesem unsicheren
Wetter?«
Über die Schulter ihrer Mutter hinwegblickend, bemerkt Sydney ihren Vater.
Er wohnt nicht im Haus, sondern in einer Pension in der Nähe. Er sitzt mit Mr. Edwards
am Küchentisch (an demselben Küchentisch, den Jeff als Waffe gegen seinen Bruder
verwenden wollte; Sydney bleibt manchmal mit dem Pullover an der Kerbe in der Tischkante
hängen), beide Männer mit einer Tasse Kaffee in den Hand.
Ihr Vater hat sich seit Jahren die Haare nicht mehr ordentlich schneiden
lassen. In unregelmäßigen kleinen Büscheln stehen sie grau rund um seinen kahlen
Scheitel, eben doch eine Kippa, wenn auch etwas anderer Art. Er trägt einen alten
Seersuckeranzug, bei dem das Weiß mit den Jahren einen Stich ins Gelbliche bekommen
hat. Gleich wird er sein silbernes Zigarettenetui zücken, ein Geschenk seiner Frau
zum Hochzeitstag, und sich eine Marlboro ohne Filter anzünden, worauf todsicher
Mrs. Edwards kreischend aus dem Wohnzimmer stürzen wird.
Einen Augenblick bleibt Sydney im Flur stehen. Sie wird ihren Vater jetzt
nicht im Gespräch stören, später erst, wenn sie angekleidet ist. Aber etwas an der
lockeren Haltung der beiden Männer, die unter viel Kopfnicken offenbar ein angeregtes
Gespräch führen, weckt in Sydney ein ganz unerwartetes Glücksgefühl.
SYDNEY WOHNT IN IHREM ALTEN ZIMMER, das ist ihr sehr angenehm. Auf dem zweiten Bett liegt der schwarze Koffer, den sie
nach Europa mitnehmen wird. Sie reist gern mit leichtem Gepäck und ist stolz darauf.
Außerdem hat sie vor, ein paar Einkäufe zu machen, wenn auch in bescheidenem Rahmen;
sie und Jeff reisen schließlich nach Paris. An der Schranktür hängt ihr Hochzeitskleid,
ein Hauch in Lachsrosa. Hélène, die ein auffallendes Talent als Friseuse an den
Tag gelegt hat, hat ihr versprochen, ihre Haare zu einem losen Knoten zu schlingen,
so, wie sie ihn einmal bei Julie bewundert hat.
Jeff wird sich im alten Jungszimmer auf der anderen Seite des Flurs ankleiden.
Er wohnt dort zusammen mit Sahir und Ivers. (Peter und Frank sind in einem der vielen
Gästezimmer untergebracht.) Sydney stellt sich die drei Männer unter den grün karierten
Decken vor, in den Betten mit den Baseballcaps aus der Kinderzeit über den Pfosten.
Vor einem Jahr wäre Ben auch mit von der Partie gewesen, in einem Klappbett, das
eigens im Zimmer aufgestellt worden wäre.
Ben, über den keiner spricht. Dessen Abwesenheit stärker zu spüren ist
als die Anwesenheit aller anderen.
Jemand klopft leise an ihre Tür, und sie zieht den Gürtel ihres Bademantels
fester. »Herein«, sagt sie.
Mit einem hübsch eingewickelten Päckchen in den Händen tritt Julie ins
Zimmer.
»Wie geht es dir?«, fragt Sydney.
»Gut.«
Sydney gefällt es, wie Julies schmales rotes Tuch im Nacken geknotet
ist. Von ihren Ohrläppchen hängen dünne Silberkettchen mit großen Kugeln am Ende
herab. Hélènes Werk. Einmal hatte Sydney, voll Bewunderung über Julies Aufmachung
bei einem Familientreffen, zu Hélène gesagt, sie würde sich gern von ihr beibringen
lassen, wie man sich mit solchem Schick herrichtet. Statt einer Antwort hatte Hélène
die silberne Kette entfernt, die Sydney trug, und sie Sydney in die Tasche geschoben.
Dann hatte sie die obersten beiden Knöpfe von Sydneys Jacke geöffnet und die Ärmel
aufgerollt. Als Sydney das Ergebnis im Flurspiegel prüfte, stellte sie zufrieden
fest, wie wirkungsvoll die wenigen Handgriffe gewesen waren. Die silbernen Stecker
in ihren Ohren und die fünf Zentimeter nackter Haut über dem Ausschnitt hatten weit
mehr Pfiff als die beiden Schmuckstücke zusammen.
»Ich habe dir etwas mitgebracht«, sagt Julie und hält das Päckchen hoch,
das mit künstlerischer Begabung eingewickelt
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