Die Nacht am Strand: Roman (German Edition)
dir, Julie.«
»Ich bin fast die ganze Zeit glücklich«, wehrt Julie ab. »Nur jetzt bin
ich ein bisschen traurig. Wegen Ben.«
Sydney nickt. »Ich habe ihn eingeladen.«
»Ach ja? Und was hat er gesagt?«
»Nicht viel. Ich glaube, die Einladung muss von Jeff kommen.«
»Ich verstehe nicht, was da passiert ist«, sagt Julie.
»Ich auch nicht.«
»Aber du warst doch dabei. Dad sagt, sie sind aufeinander losgegangen.«
»Na ja, nicht direkt körperlich. Aber es stimmt schon, sie sind aufeinander
losgegangen.«
»Sie haben dauernd gerauft, als sie noch klein waren. Dad hat mir davon
erzählt.«
Bei Julies Geburt, rechnet Sydney nach, waren die Brüder siebzehn und
dreizehn.
»Und dann ist Ben aufs College gegangen, und es hat von einem Tag auf
den anderen aufgehört. Dad meint, sie hätten es nie wirklich ausgetragen.«
Sydney stellt sich Mr. Edwards vor, wie er Julie Bens unverständliche
Abwesenheit bei Familientreffen zu erklären versucht. Ihm war das Zerwürfnis zweifellos
um ihretwillen genau so arg wie um seiner selbst willen.
»Was ziehst du heute Abend an?«, will Julie wissen.
»Ein blaues Sommerkleid. Und eine Strickjacke, wenn es auf der Veranda
kalt ist. Und du?«
»Hélène hat mir ein Kleid ausgesucht. Es ist schwarz. Schwarz ist doch
okay, oder?«
»Natürlich.«
»Es ist irgendwie, ich weiß auch nicht. Es hat einen tiefen Rückenausschnitt.«
Sydney streicht das Haar über Julies Stirn glatt. »Das ist das schönste
Geschenk, das ich je bekommen habe.«
In dem Badezimmer, das Sydney sich mit dem Geistlichen teilt, muss sie
erst über einen durchnässten Prospekt der Firma Hemmings Motors hinwegsteigen, um zur Dusche zu gelangen. An einem Haken hängt ein abgewetzter Toilettenbeutel
mit Dingen darin, an die Sydney nicht einmal denken möchte. Sie kann eine kleine
Glasflasche Hühneraugentinktur erkennen.
Wieder in ihrem Zimmer, versucht Sydney eine Zeit lang, ihr Haar über
der Stirn zu einer Welle zu legen, in die sie dann die mit Onyx und Strass besetzte
Spange schieben könnte, die sie sich eigens für diesen Abend gekauft hat. Es soll
eine Frisur im Stil der Vierzigerjahre werden, passend zu dem altmodischen Sommerkleid,
das sie in einem Trödelladen in Cambridge gefunden hat. Doch nach mehreren erfolglosen
Versuchen gibt sie auf und begnügt sich mit einem Pferdeschwanz, den sie zum Knoten
dreht.
Hélènes Vorbild nacheifernd, probiert sie verschiedene Ohrringe an und
entscheidet sich schließlich für kleine Blütenknospen aus geschliffenem Glas, auch
diese aus dem Trödelladen. Dann mustert sie sich in dem kleinen Spiegel an der Schranktür.
Ihr Gesicht hat von den wenigen Sonnenstunden der letzten Tage Farbe bekommen, aber
ihr noch feuchtes hochgestecktes Haar sieht zu streng aus. Sie zieht Nadeln und
Gummi heraus und lässt es herabfallen, ohne es noch einmal zu berühren. Die Similisteine
an ihren Ohren passen perfekt.
Das Kleid sitzt an Taille und Hüften hervorragend. Weiter abwärts kann
Sydney nicht sehen, weil der Spiegel so klein ist, sie kann die Rocklänge nur schätzen.
Sydney, vor einem Jahr noch ein Niemand, den man den Gästen vielleicht
vorstellte oder auch nicht, hat sich das Rampenlicht erobert. Sie ahnt, dass ein
so rapider Aufstieg zwangsläufig eine unsichere Sache ist, eine Nachhilfelehrerin,
die zur Ehefrau erhoben wird. Eine verdächtige Beförderung.
Sydney fällt plötzlich auf, dass sie Jeff gar nicht vom Strand hat zurückkommen
sehen. Gehört hat sie auch nichts. Sie geht zum Fenster, und da entdeckt sie ihn.
Er sitzt auf einem Kajak und schaut zwei Jungen beim Skimboarden in einer kleinen
Bucht zu, die das auslaufende Wasser hinterlassen hat. Er sieht aus, als wünschte
er, er könnte sich ihnen anschließen.
Sydney legt sorgfältig ihr neues Taschentuch zusammen und schiebt es
in die Tasche ihres blauen Sommerkleids. Sie wird es Jeff und ihrer Mutter zeigen,
aber nicht Mrs. Edwards, die vielleicht gar nicht um einen Beitrag gebeten wurde.
Oder einen Beitrag abgelehnt hat. Sie atmet einmal tief durch. Abgesehen von der
Sorge um ihre Eltern und der Angst vor einem Kalten Krieg, sollten die beiden leichtsinnigerweise
längere Zeit sich selbst überlassen bleiben; abgesehen von ihrer ständigen Sorge,
nur ja nicht den empfindlichen Waffenstillstand mit Mrs. Edwards zu gefährden,
und ihrem Bemühen, Bens demonstratives Nichterscheinen zu ignorieren, müsste es
eigentlich ein netter Abend werden.
Als sie oben in den Flur hinaustritt, hört sie
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